Michael Hagner: "Foucaults Pendel und wir":Leise kratzend dreht sich die Erde

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Berühmtestes Exemplar einer Versuchsanordnung: Das Foucaultsche Pendel zum empirischen Nachweis der Erdrotation in der nationalen Ruhmeshalle Panthéon von Paris. (Foto: imago stock&people)

Michael Hagners elegante Studie über das Foucaultsche Pendel ist vor allem eine Geschichte der Konkurrenz zwischen religiösen und wissenschaftlichen Weltbildern.

Von Thomas Steinfeld

Fast drei Jahre war das Panthéon, die Ruhmeshalle der französischen Republik, verschlossen, nachdem das Gebäude während der Revolution von 1848 zum Ort blutiger Kämpfe zwischen aufständischen Arbeitern und Anhängern der Regierung geworden war. Als es im März 1851 wiedereröffnet wurde, diente es der Zurschaustellung eines wissenschaftlichen Experiments: Mithilfe eines 67 Meter langen Drahtseils, das in der Kuppel befestigt worden war, einer glatt polierten kupfernen Kugel mit einem Gewicht von 28 Kilogramm sowie einer Gradierung auf dem Boden demonstrierte der Journalist, Feinmechaniker und Privatgelehrte Léon Foucault, wie sich die Erde um sich selbst dreht: Während das Pendel hin und her schwingt, in immer wieder derselben Bahn, bewegt sich der Globus, mit der Folge, dass sich die Schwingungsebene des Pendels allmählich zu verschieben scheint, mit einer Abweichung von etwa elf Grad pro Stunde. Es ist aber nicht das Pendel, das seinen Ort verändert. Der Raum bewegt sich.

Die Darbietung war ein großer Publikumserfolg, dessen mediales Echo weit über Frankreich hinauswirkte. Seit der Restaurierung des Panthéon im Jahr 1995 ist die Installation wieder am Ort ihres ersten großen Erfolgs zu sehen.

Zweifel daran, dass die Erde um die eigene Achse rotiert, während sie sich um die Sonne dreht, hatte es Mitte des 19. Jahrhunderts schon lange nicht mehr gegeben: Die letzten Bedenken waren mit Isaac Newton und dessen Lehre von der Schwerkraft beseitigt worden. Doch waren die Beweise logischer Art gewesen. Mithilfe des Pendels hingegen konnte der Nachweis empirisch geführt werden: Zwar hatte es in den Jahrzehnten zuvor etliche Versuche gegeben, die Erdrotation mithilfe von Kugeln nachzuweisen, die von möglichst hohen Türmen oder in Bergwerksschächten fallen gelassen wurden. Doch waren die Ergebnisse selten eindeutig gewesen, und sie eigneten sich kaum zur öffentlichen Darbietung.

Eine kosmische Bewegung schien auf beinahe menschliches Maß gebracht zu sein

Anders verhielt es sich mit Foucaults Pendel: Im Keller seines Wohnhauses entwickelt, in einer Sternwarte verfeinert und schließlich in den Riesenraum einer ehemaligen Kirche übertragen, besaß diese Versuchsanordnung nicht nur den Vorteil der Anschaulichkeit. Sie lieferte Resultate von äußerster Präzision. Und sie war elegant: Bedächtig schwang die Kugel hin und her, leise ritzte ein Dorn an ihrem untersten Punkt eine Spur in den Sand, der unter ihr ausgestreut worden war, und ehrfürchtig betrachtete das Publikum nicht nur ein Spektakel, sondern auch eine Offenbarung, in der eine kosmische Bewegung auf beinahe menschliches Maß gebracht zu sein schien.

Von einem Experiment im physikalischen Sinn handelt das Buch von Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der ETH Zürich, nur zum geringeren Teil. Der andere Teil ist der öffentlichen Darbietung des Versuchs gewidmet, von der ersten Zurschaustellung im Panthéon bis zu einer Installation Gerhard Richters, die seit Mitte 2018 in der Dominikanerkirche in Münster zu sehen ist. Diese Geschichte hat nur bedingt etwas mit Wissenschaft zu tun. Sie gilt vielmehr einer politischen Repräsentation, die sich die Wissenschaft zunutze macht, falls sie sich nicht gar mit den Mitteln der Anschauung von der Wissenschaft emanzipiert.

Das war von vornherein so gewesen: Ohne die Unterstützung des Astronomen François Arago, des Ständigen Sekretärs der Akademie der Wissenschaften, hätte Foucaults Pendel nicht auf die nationale Bühne des Panthéon gefunden, und es wäre nicht mit der Idee einer "Schule des Universums" verbunden worden, die ihren Sitz nur in Paris, der "Hauptstadt aller Wissenschaften", haben sollte. Einmal in der Sphäre der Volkspädagogik angekommen, fand die Darbietung jedoch bald Nachahmer an anderen Orten und in anderen Ländern. Mehr als dreihundert öffentlich betriebene Foucaultsche Pendel sollen auf der Welt noch heute hin und her schwingen.

Soll Galilei nicht mit dem Satz "Und sie bewegt sich doch!" in die Kerkerhaft gegangen sein?

Das Panthéon war aus einer Kirche hervorgegangen, die der heiligen Genoveva gewidmet gewesen war. Während der Revolution war sie profaniert worden. In der Säkularisierung spiegelt sich (auch wenn sie mehrmals zurückgenommen wurde) ein Sieg des Laizismus über die Religion, und von der Überlegenheit der Wissenschaft über den Glauben kündet auch Foucaults Installation: Soll Galileo Galilei nicht mit dem Satz "Eppur si muove!" - "Und sie bewegt sich doch!" - in die Kerkerhaft gegangen sein? Und war die sichtbar gewordene Erdrotation nicht der letzte, schlagende Beweis gegen den bornierten Machtanspruch der katholischen Kirche, die wider den aufgeklärten Geist am Geozentrismus festhalten wollte? In den Triumph, den Wissenschaft und Nation in diesem anschaulichen Nachweis feierten, ging die vermeintliche Niederlage der Religion ein.

Mit derselben Umsicht und Genauigkeit, mit der Michael Hagner erklärt, warum das Pendel zum Sinnbild einer populären wissenschaftlichen Weltanschauung wurde, legt er dar, dass die Kirche weit differenzierter auf Galileis Lehre reagierte, als die spätere Rezeption des Inquisitionsverfahrens ahnen ließ. Immerhin sprachen sowohl die sinnliche Wahrnehmung als auch das Verlangen nach "Sinnhaftigkeit" dafür, dass der Mensch mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. Und schließlich war es Galilei selbst, der mit der Behauptung, ein empirischer Beweis für die Erdrotation lasse sich nicht finden, die Entdeckung eines solchen Belegs um Jahrzehnte, wenn nicht um zwei Jahrhunderte verzögerte. Umgekehrt wurde das Pendel gegen Ende des 19. Jahrhunderts selbst zum Gegenstand einer gleichsam religiösen Verehrung, die ihren Höhepunkt im Jahr 1902 fand, als die Versuchsanordnung vorübergehend ins Panthéon zurückkehrte, "als anti-klerikaler Altar", wie Hagner meint, vor dem man "kosmologische Messen" halten konnte.

Der Kommunismus ließ den Gegensatz von religiösem Dogma und wissenschaftlichem Wahrheitsdrang noch einmal aufleben, in verschärfter Form: Als die Sowjetunion die Isaakskathedrale in St. Petersburg Anfang der Dreißigerjahre in ein Museum des Unglaubens verwandelte, hing dort das größte aller bis dahin gebauten Pendel. Und mit Bertolt Brechts epischem Stück "Das Leben des Galilei" aus dem Jahr 1939 wurde die ideologische Verkürzung des Konflikts zwischen Macht und Wahrheit nach dem Zweiten Weltkrieg zum Stoff für den gymnasialen Deutschunterricht.

Die Physik ist über die theoretischen Errungenschaften Isaac Newtons hinweggegangen

Um Genauigkeit in der Geschichtsschreibung oder gar um eine Korrektur historischer Irrtümer ging es allerdings bei den weiteren Wanderungen und Vervielfältigungen des Pendels nicht mehr. Wenn das Experiment, was häufiger vorkam, in Kirchen gezeigt wurde, dann geschah das nicht nur der Raumhöhen wegen, sondern auch, weil dem Pendel in seinem scheinbar ewigen, ruhigen Hin und Her selbst etwas Sakrales eignet: Was immer sichtbar wird, rührt zugleich an das Unsichtbare.

Darüber hinaus diente das Pendel ohne Unterlass als Symbol des wissenschaftlichen Fortschritts, in Museen, in Planetarien und auf Weltausstellungen. Es zog in die Schulen ein und war als Bausatz zu erwerben, im Zuge eines voranschreitenden Interesses an der Popularisierung der Naturwissenschaften, das auch dafür sorgte, dass die Bestandteile der originalen Versuchsanordnung ihren Weg ins Museum fanden. Als das französische Atomkraftwerk Cattenom gebaut wurde, im Jahr 1985, hängte man dort ein Pendel mit einer Länge von 165 Metern auf, als offensives Bekenntnis zur Wissenschaft.

Eine besonders symbolträchtige Variante hängt im Foyer des Hauptgebäudes der Vereinten Nationen in New York, als Memento, dass sich "die irdischen Belange der Nationen" an der Unabweisbarkeit kosmischer Vorgänge zu relativieren haben. Dieser Bildkraft war es nicht abträglich, dass die Physik über die theoretischen Errungenschaften Isaac Newtons und seiner Vorgänger hinwegging: Seit Ernst Mach im Jahr 1883 erklärt hatte, die Lagen und Bewegungen physischer Körper seien nur relativ zu betrachten, und Henri Poincaré die Annahme widerlegt hatte, es gebe einen absoluten Raum, lag im Schwingen des Pendels keine Gewissheit mehr.

Michael Hagner: Foucaults Pendel und wir. Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2021. 396 Seiten, 38 Euro. (Foto: N/A)

Von der Auflösung der physikalischen zur Auflösung der symbolischen Gewissheiten ist es nur noch ein kleiner Schritt, und Michael Hagner vollzieht ihn mit einer Eleganz, für die man vermutlich kein echter, sondern ein dilettierender Kunsthistoriker sein muss. Nach einer Darstellung der vielfältigen wissenschaftlichen und religiösen Verschwörungen, die Umberto Eco in seinem Roman "Das Foucaultsche Pendel" aus dem Jahr 1988 in einer kosmischen Verwirrung enden lässt, schließt das Buch mit einer Betrachtung der Installation Gerhard Richters: In Münster schwingt das Pendel, dieses Mal über einer runden Platte aus Grauwacke, während nicht nur die experimentelle Einrichtung, sondern auch deren Beobachter von zwei grauen Doppelspiegeln an den Wänden reflektiert werden. Immer noch wird also die Versuchsanordnung gezeigt, aber die Darbietung ist zugleich Gegenstand einer Reflexion über ihre Bestimmung und ihre Voraussetzungen. Was unmittelbar Zeugnis eines kosmischen Ereignisses zu sein scheint, wird auf seine Mittelbarkeit zurückgeführt.

Den Übergang von Wissenschaft und Politik in Kunst spiegelt auch das Buch selbst. Michael Hagners Monografie ist eines der schönsten Sachbücher der vergangenen Jahre: Sorgfältig gestaltet und gebunden, auf festem, weißem Papier gedruckt, mit einem großzügigen, leicht zu lesenden Satzbild und Illustrationen, die sich in den Text integrieren, ist dieses Buch eine Erinnerung daran, "dass gerade der materielle Gegenstand, den man in Händen hält, für jene Integrität und Stabilität sorgt, die ein Buch aus einem ununterscheidbaren Gewimmel von Wörtern heraushebt". Auch dieser Satz stammt von Michael Hagner, allerdings aus einem älteren Werk. In seinem jüngsten Buch hat er für beides gesorgt: für eine solche Gestalt und für eine Arbeit, die einem solchen Anspruch standhält.

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