"Die Welt ist also doch zu klein, um sich zu verstecken. So sehr er es auch durchdachte, es gab wohl nirgendwo einen Ort, wo man hinkonnte, um unsichtbar zu werden", schrieb Michael Glawogger im letzten seiner Doku-Blogs, die er Woche für Woche auf sueddeutsche.de veröffentlichte. "Und doch blieb der alte Kindergedanke in seinem Kopf hängen wie ein Lied: Die Welt ist so groß, man muss sich doch irgendwo verstecken können, wo einen keiner findet."
Die Form des Verschwindens, des Unsichtbarwerdens, die Michael Glawogger vor einem halben Jahr wählte, war ein neues Filmprojekt, ein Film ohne Titel und ohne Thema - einfach ein Jahr lang mit seiner Crew in die Welt hinaus fahren, erst mal Afrika südwärts, Bilder sammeln, Vorstellungen Farben und Konturen annehmen lassen - das entwickeln, was man eine Vision nennt. Unterwegs ist er nun gestorben, mit 54, am Mittwoch in Liberia.
Ein alter Kindergedanke auf der Fahrt durch Afrika, Walter Benjamin kommt einem in den Sinn, seine Erinnerungen an die Kindheit, sein Passagenwerk, sein Leben in den Bibliotheken. Um eine Bibliothek ging es auch in dem Werk, das Glawogger vor Antritt seiner großen Tour beendet hatte, ein Beitrag zum spektakulären Projekt "Kathedralen der Kultur", das auf der Berlinale vorgestellt wurde, in wenigen Wochen in die Kinos kommen wird.
Sechs Filmemacher präsentieren große Kulturbauten, in 3D, organisiert von Wim Wenders, der selbst die Philharmonie in Berlin erkundet, Glawogger nimmt sich die Nationalbibliothek in St. Petersburg vor, auch Robert Redford ist dabei, der das Salk Institute von Louis Kahn vorstellt.
Es mag überraschen, wenn Glawogger, der uns in seinen majestätischen Globalsinfonien der Arbeit - "Megacities", "Workingman's Death" und "Whores' Glory" mit brutaler Ausbeutung, unmenschlichen Arbeitsbedingungen und Prostitution konfrontierte, nun in einem Tempel der Schriften und Bücher auftaucht.
Aus der Weite der Landschaft
Es musste eine Bibliothek sein, erklärt Glawogger kategorisch, in einem letzten Gespräch im Januar, während er schon durch Marokko fuhr, bei einem der Telefonate hörte man den Wind knattern, plötzlich eine Ziege blöken. Man stellte sich den Himmel vor und die Weite der Landschaft, während Glawogger von seiner Bibliothek erzählte, in seinem verspielten Österreichisch, der einzigen Sprache, die so lässig konzentriert sein kann.
"Für den Wim ist 3D eine ganz große Sache, der glaubt daran wie ein Vorreiter, er sagt ja auch, man darf sich von Hollywood diese neue Form des Schauens nicht wegnehmen lassen. Für mich war's ein Sprung ins kalte Wasser. 3D funktioniert dann, wenn die Räume sehr eng waren, verwinkelt, labyrinthartig - Weitläufigkeit dagegen, normale Straßenszenen, eine Totale von oben, das schaut fast albern aus. Wir hatten eine Art Seminar, das die Produktionsfirma zur Verfügung stellte, so macht man wenigstens keine Fehler. Ich habe gleich geschaut, dass die Einstellungen länger sind, und dass die Leute die Räume nicht von der Seite durchmessen, sondern in die Räume eindringen. Das Ganze sollte, so war mein Konzept, wie abfließendes Wasser sein, das heißt ein Strudel durch die Bibliothek. Ein Schauen und sich Drehen und dort noch um eine Ecke gehen und dort noch jemanden entdecken und da ein Buch herausziehen . . ."
Einen Raum inszenieren, darum geht es in den "Kathedralen", das passt zu Glawogger, der ein reiner Dokumentarfilmer nie gewesen ist, er hat lustvoll überdrehte Spielfilmtrips gedreht wie "Nacktschnecken" oder "Contact High".
Gegenstück zum Touristen
Auch seine Arbeiter-Filme sind hochartifizielle Gebilde, alles andere als Draufhalte-Kino. "In die Gänge, die Eingeweide der Bibliothek darf eigentlich keiner rein. Dass das bei uns dann doch so easy und locker ausschaut, liegt daran, dass man uns einen so unglaublich dokumentarischen Zugang ermöglichte. Das wär nicht möglich gewesen in einer der großen Bibliotheken des Westens, London, Oxford, der Vatikan - dass ich dort auch mit den Angestellten ganze Tage drehe. Und all die wertvollen Bibeln, die da unten stehen, die wären wahrscheinlich hinter Panzerglas gestellt."
Workingwoman's Life: "All diese liebenswerten alten Frauen sind ja seit der Sowjetzeit da, irgendwie machen sie, obwohl sie aus der Vergangenheit kommen, einen lebendigen Ort daraus. Sie wohnen gewissermaßen dort. Es gibt auch noch diese ganzen Karteikästen, die Bibliothek ist ja großteils nicht digitalisiert, das muss man sich vorstellen, bei 34 Millionen Büchern, die die haben."
Glawogger arbeitet gegen die Nostalgie, gegen den Mythos Bibliothek, den Ruch des Kulturbürgerlichen und Verstaubten und Untergehenden, der den Ort anhaftet. Für eine Beiläufigkeit im Umgang mit der Kultur. "Es gibt natürlich Momente, wo's dann schon sozusagen zur Sache geht. Die zwei Momente, wenn man in die Bücher eindringt, einmal in die Bibel, die man mit der Kamera zum Leben erweckt, in 3D, und dann in den Kindle . . . Ich wollte den Film nicht in einer Nostalgie verkommen lassen, wollte schon auch zeigen, dass das heute in diese kleine Maschine reingeht. Ich finde das auch nicht so wahnsinnig schlecht, ich besitze selber eine, jeder Reisende kann so die Bücher mitnehmen, die er braucht, und das eine Buch, das es nur als Buch gibt, nehme ich eben so mit."
Michael Glawogger ist nicht als Dokufilmer nach Afrika gefahren, sein Blog ist kein Erlebnisbericht, sondern eine kunstvolle Fiktion. Der Held- es wird sich dabei wohl um den Filmer und Schreiber handeln - taucht in der dritten Person auf. Eine Projektion, das Gegenstück zum Touristen, der in seinem Sightseeing alles schluckt.
Auch deshalb wirkt dieser Tod so absurd, so unglaublich, so quälend - Malaria, die unter der einheimischen Bevölkerung wütet, aber gegen die Besucher aus dem Norden sich gefeit glauben. Die Wirklichkeit hat Michael Glawogger doch gefunden. Die Aura des Filmemachens konnte ihn nicht immunisieren hinter seiner Kamera.