Süddeutsche Zeitung

Michael Endes Jim Knopf:Dann war es da

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Vor 50 Jahren kam Jim, das Negerkind, in einem falsch adressierten Postpaket nach Lummerland: Man kann die Kinder nicht vor dem Leben beschützen - aber manchmal hilft schon ein Knopf an der richtigen Stelle.

Christopher Schmidt

Nein, Jim Knopf ist nicht für einen Perlenknopf gekauft worden wie der Indianerjunge Jemmy Button, der vielleicht sein historisches Vorbild war. Charles Darwin erwähnt ihn in seinem Reisetagebuch, und Julia Voss, die über die Namensähnlichkeit gestolpert war, sieht darin den Schlüssel zum Verständnis von "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer", dem Buch, das vor genau fünfzig Jahren erschienen ist. In ihrer Studie "Darwins Jim Knopf" argumentiert sie, man müsse Michael Endes vermeintlich eskapistisches Kinderbuch als Exorzismus der nationalsozialistischen Mythen lesen, die auf einem rassenideologisch gewendeten Darwinismus beruhten.

In der Tat beginnen ja die Abenteuer von Jim Knopf und seinem besten Freund Lukas, dem Lokomotivführer damit, dass sie Lummerland verlassen sollen, um eine drohende Überbevölkerung abzuwenden. Michael Ende karikiert die NS-Propaganda vom Volk ohne Raum, wenn er sie dem schon seinem Namen nach zum Alarmismus neigenden Alfons der Viertel-vor-Zwölfte in den Mund legt, einem König, der gerade mal zwei Untertanen hat, "wenn man einmal von Lukas absieht, der eigentlich kein Untertan war, sondern Lokomotivführer" (und damit selbst eine Führer-Parodie). Die Schwarzen müssen raus: entweder Emma, Lukas' Lokomotive, oder Lukas, der selbst mit seiner besonderen Lokomotivführerseife all den Ruß und das Öl nicht mehr wegbekommt, die tief in seine Haut eingedrungen sind. Oder eben Jim, der Findling, das Negerkind, das in einem falsch adressierten Postpaket auf die Insel gekommen war.

Jim und Lukas waren auf Anhieb Freunde geworden, "weil Lukas ja ebenfalls fast ganz schwarz war". Eigentlich geht Jim bei Lukas in die Lokomotivführer-Lehre, aber das schließt nicht aus, dass er doch noch Schiffsjunge wird, wie es sein Vorbild auf Darwins "Beagle" war. Als die drei beschließen, gemeinsam Lummerland zu verlassen, muss die alte Emma seetüchig gemacht werden. Und nachdem alle Ritzen kalfatert worden sind, ist die Lokomotive noch schwärzer als zuvor und als geteerte Ausreißerin zugleich ein Inbild aller Vogelfreien.

Untertanen sind Jim Und Lukas schon deshalb keine, weil sie Künstler sind, was man schon am Pfeiferauchen erkennt. Und an ihrer Nutzlosigkeit. Lukas kann aus Eisenrohren eine Schleife binden und einen Looping spucken, wozu er viel Zeit und Muße hat, denn ein Lokomotivführer wird auf einer so kleinen Insel wie Lummerland eigentlich nicht gebraucht. Und Jim? Er kommt zu seinem Nachnamen, weil er sich die Hose immer an derselben Stelle zerreißt, bis die findige Frau Waas einfach die Ränder des Lochs einsäumt und einen Knopf an den Hosenboden näht.

Jetzt konnte man das Loch im Bedarfsfall aufknöpfen, "dann war es da". Und in diesem Bild liegt die ganze Kunst von Michael Ende: Man kann die Kinder nicht vor dem Leben beschützen, aber manchmal hilft schon ein Knopf an der richtigen Stelle, um ihnen zu helfen. Und manchmal ist ein Buch solch ein magischer Knopf.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2010
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