Süddeutsche Zeitung

Michael Degen zum 90. Geburtstag:Voller Schrecken und Wunder

Er spielte Hamlet, Hitler, Holocaust-Überlebende - und den Chef von Commissario Brunetti: Der Schauspieler, Schriftsteller und jüdische Aufklärer Michael Degen wird 90.

Von Christine Dössel

Michael Degen blickt auf ein sehr langes, sehr reiches Schauspielerleben zurück, seit siebzig Jahren übt er diesen Beruf aus - was kommt da nicht alles zusammen! Sein Rollenverzeichnis umfasst Auftritte in Rosamunde-Pilcher-Schmonzetten ebenso wie Protagonisten des klassischen Repertoires, allein den Hamlet hat er dreihundertmal gespielt. Fest eingeschrieben in die Köpfe der Zuschauer und bei Fans auch in die Herzen hat er sich jedoch vor allem als geckenhaft-eitler Vice-Questore Giuseppe Patta, Vorgesetzter von Commissario Brunetti in der 2019 abgeschlossenen "Donna Leon"-Reihe der ARD. Die teutonische Italianità, die das deutsche Fernsehen in diesen oft schlaffen Venedig-Krimis nach den Büchern von Donna Leon zelebrierte, war für die einen schwer aushaltbar, für die anderen jedoch, immerhin ein Millionenpublikum, ein kuschelig-kriminaltouristisches Ereignis.

Zum Rollenprofil des bei Degen stets wie aus dem Ei gepellten Vice-Questores gehört, dass er zwar das Sagen hat, aber keiner ihn so richtig ernst nehmen kann, weil er ein aufgeblasener Fatzke und als Polizist einigermaßen dämlich ist, anfällig für Luxus, Korruption und Schmeichelei. Die Komik, die darin steckt, hat Degen jedes Mal bis an die Grenze zur Trotteligkeit ausgereizt. Er spielte die Rolle nicht nur, wie es immer heißt, "mit einem Augenzwinkern", sondern sehr oft gleich ganz als Knallcharge, mit überdeutlicher Gockel-Gestik, vielleicht auch, um sich die Figur vom Leib zu halten, seine innere Distanz zu signalisieren. Denn eigentlich war dieser Patta gar nicht sein Fall. "Ich vermisse ihn nicht, ich weiß gar nicht, ob ich ihn besonders mag", sagte er jüngst.

Wie beruhigend. Michael Degen ist schließlich ein sehr viel facettenreicherer, auch in komischen Parts wesentlich abgründigerer Schauspieler, als es seine vermeintliche "Paraderolle" in der "Donna Leon"-Reihe oder seine zahlreichen Episodenauftritte als galanter Gentleman im Nullachtfünfzehn-Fernsehen denken lassen. Er selber hat vieles davon als "Schrott" bezeichnet und stets auf seine Rolle als Ernährer von vier Kindern aus zwei Ehen verwiesen: "Irgendwo muss das Geld ja herkommen." In den späten Achtzigerjahren kam es zum Beispiel aus der sehr populären ZDF-Serie "Diese Drombuschs", in der Degen alias Dr. Martin Sanders mit der ihm eigenen Nonchalance die Protagonistin Witta Pohl eroberte. Seit seiner bewegenden Autobiografie "Nicht alle waren Mörder" (1999) über seine Kindheit als Jude im Berlin der Nazizeit, ist Degen, der ein hervorragendes Talent zum Erzählen hat, auch als Buchautor erfolgreich, schrieb Romane wie "Blondi" (2002) über Hitlers Hündin oder "Familienbande" (2011) über Thomas Manns jüngsten Sohn Michael.

Die Geschichte seines Überlebens während der Nazizeit ist voller Schrecken und Wunder und wurde ein verfilmter Bestseller

Aber Michael Degen muss sowieso niemandem mehr etwas beweisen. Neunzig Jahre alt wird er an diesem Montag. Das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte hat der 1932 in Chemnitz geborene Sohn jüdischer Eltern miterlebt und überlebt. Er hat danach dem Land dennoch nicht den Rücken gekehrt, sondern als Schauspieler zum kulturellen und auch geistig-moralischen Wiederaufbau des Landes beigetragen; sich, wo nötig, politisch geäußert, gegen die ewig Gestrigen, die alten und die neuen Rechten. Allein dafür gebührt ihm größte Anerkennung.

Aufgewachsen ist Michael Degen in Berlin. Sein Vater, ein tuberkulosekranker Kaufmann und Professor für Sprachen, wurde 1939 ins KZ Sachsenhausen deportiert und dort von den Nazis nahezu totgeschlagen. Er starb ein Jahr später, nachdem sie ihn entlassen hatten. Während der ältere Sohn Adolf, später Ari genannt (allein darin steckt schon so viel Geschichte), nach Palästina fortgeschickt werden konnte, blieb Michael mit seiner Mutter Anna zurück in Berlin. Sie entkamen 1942 knapp der Deportation nach Auschwitz und überlebten bis Kriegsende mit Hilfe einiger zivilcouragierter Menschen versteckt in einer Ostberliner Laubenkolonie - eine Geschichte voller Schrecken und Wunder, die, als Degen sie viele Jahrzehnte später aufgeschrieben hatte, nicht nur zum Bestseller, sondern 2006 von Jo Baier auch verfilmt wurde.

Nach dem Krieg kam Degen, der in seinem Versteck Goethes "Faust" auswendig gelernt hatte und damit vorsprach, am Deutschen Theater in Ostberlin unter: als Stipendiat an der angeschlossenen Schauspielschule und in ersten kleinen Rollen. 1949 ging er nach Israel, wo er seinen Bruder suchte und auch fand, in der Armee diente und am Kammertheater in Tel Aviv spielte. In seinem Buch "Mein heiliges Land" (2007) schreibt Degen über diese Zeit, die allerdings nur zwei Jahre währte. Ihm fehlte nicht nur die Mutter, die in Berlin geblieben war, sondern auch seine "Muttersprache", die Sprache, in der er spielen wollte. Zurück in der Heimat, holte ihn Bertolt Brecht 1954 ans Berliner Ensemble. Es folgten Engagements in Köln, Frankfurt und wieder Berlin, wo er erstmals auch Regie führte (Goethes "Urfaust"), schließlich München, vier Jahre fest am Bayerischen Staatsschauspiel, danach frei. Auch in München inszenierte er Goethe, diesmal seinen geliebten "Faust I"; er spielte Heinar Kipphardts "In der Sache J. Robert Oppenheimer" und in der Regie des großen Ingmar Bergman in Strindbergs "Fräulein Julie" (1981).

Es ist eine fast kühle Präzision bei gleichzeitiger Intensität, Geschmeidigkeit und Eleganz, die Degen als Schauspieler auszeichnet, dazu eine sanfte, fast möchte man sagen: natürliche Melancholie, jederzeit absturzgefährdet. Sein freundlich-markantes Gesicht, die dunklen, schreckenstiefen Kinderaugen, sein weicher, tänzelnder Ton - noch der zwiespältigsten Figur schenkt er seine Degen-Feinheit. Und er hat viele zwiespältige Figuren verkörpert, hat sich in ambivalenten Rollen immer wieder mit dem Holocaust beschäftigt, sich mit wachem politischen Bewusstsein mit der Nazi-Vergangenheit auseinandergesetzt.

Bei Peter Zadek spielte er in Joshua Sobols "Ghetto" den jüdischen Lageraufseher Gens: einen Mann, der die einen Juden ausliefert, die anderen rettet, moralisch nicht zu greifen. Bei George Tabori, mit dem er in Wien arbeitete, war er die treibende Kraft in dessen grauenvoll-komischen "Kannibalen": KZ-Häftlinge erschlagen, irre vor Hunger, einen der Ihren und machen sich daran, ihn zu einer Suppe zu verarbeiten. In dem Fernsehzweiteiler "Geheime Reichssache" von Michael Kehlmann spielte Degen 1988 sogar Adolf Hitler.

Ein subtiles Einzelgängerpsychogramm gelang ihm als Professor Bernhardi, jener jüdische Arzt, der sich in dem Stück von Arthur Schnitzler einer antisemitisch grundierten Kampagne seiner Krankenhauskollegen erwehren muss. Ende der Achtzigerjahre war das, am Wiener Theater in der Josefstadt. Dorthin kehrte Degen 2010, nachdem er sich im Theater lange schon rar gemacht hatte, in Thomas Bernhards Skandalstück "Heldenplatz" zurück, schleuderte als Robert Schuster bittere Hasstiraden gegen Nazi-Österreich und zog mit einer "hellsichtigen Greisenhaftigkeit" dem Abend den "existenziellen Boden" ein, wie es der Wiener Kritiker Paul Jandl formulierte.

Michael Degen hat als Künstler, Zeitzeuge und Mahner das Seine zur politischen Bewusstseinsbildung der Bundesrepublik beigetragen. Den Antisemitismus und Rechtsradikalismus in diesem Land fröhliche Urständ feiern zu sehen, muss für den nun 90-Jährigen bitter sein. Es sei ihm gratuliert und gedankt und versichert, dass seine Arbeit nicht umsonst war.

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