Micha Brumlik zu Günter Grass:"Grass ist kein Antisemit, bedient sich aber antisemitischer Deutungsmuster"

Für Micha Brumlik, Ex-Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, hat Günter Grass in seinem umstrittenen Israel-Gedicht antisemitische Formulierungen benutzt. Für besonders skandalös hält Brumlik die Unterstellung, dass Israel das iranische Volk auslöschen möchte. Ein Gespräch über Ängste im Nahen Osten - ob und wie Deutsche Kritik an Israel üben dürfen.

Lars Langenau

Micha Brumlik, 65, ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er wurde als Kind jüdischer Flüchtlinge in der Schweiz geboren, war Stadtverordneter für die Grünen in Frankfurt und von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, einer Forschungs-, Dokumentations- und Bildungseinrichtung zur Geschichte der nationalsozialistischen Massenverbrechen. Unter anderem hat er das Buch "Deutscher Geist und Judenhass" veröffentlicht.

Neuer Leiter des Fritz-Bauer-Instituts Micha Brumlik

Micha Brumlik: "Ich halte Grass vor, dass er politisch so unbelesen ist."

(Foto: dpa)

SZ: Das Israel-Gedicht von Günter Grass schlägt hohe Wellen. Ist es überhaupt ein Gedicht?

Micha Brumlik: Es ist ein reimloses Prosagedicht, das in seinen einzelnen Zeilen eine gewisse sprachliche Rhythmik aufweist. Das ändert aber nichts an dem miserablen inhaltlichen Charakter dieses Gedichts.

SZ: Wieso finden Sie es miserabel?

Brumlik: Das Gedicht hantiert massiv mit antisemitischen Formulierungen und ich halte es für skandalös, dass Grass die Erwähnung der Bedrohung Israels durch Iran noch nicht einmal für nötig hält. Außerdem kritisiere ich schärfstens Grass' Unterstellung, dass Israel das iranische Volk auslöschen möchte. Das halte ich für eine projektive Fehlverarbeitung des nationalsozialistischen Judenmordes und die Schuld all derer, die daran in irgendeiner Weise mitgewirkt haben.

SZ: Könnten Sie bitte den Vorwurf des Antisemitismus erläutern.

Brumlik: Zu den wenigen harten Kriterien für antisemitische Äußerungen zählt die Dämonisierung von jüdischen Personen oder Institutionen. Israel ist ohne Zweifel ein jüdischer Staat. Und in diesem Gedicht wird dem Staat Israel vorgehalten, möglicherweise das iranische Volk auslöschen zu können und zu wollen. Das hat jedoch mit keiner politischen Wirklichkeit auch nur das Allergeringste zu tun. Deshalb sehe ich dies als einen typischen Ausdruck von Dämonisierung und damit als Antisemitismus an.

SZ: Grass hat sich in einem SZ-Interview korrigiert und die Kritik angenommen, dass er Israel mit israelischer Regierung hätte austauschen müssen.

Brumlik: Das macht es aber überhaupt nicht besser, auch die Regierung Netanjahu - die mir politisch durchaus unsympathisch ist - plant nicht, das iranische Volk auszulöschen.

SZ: Man könnte das so lesen, dass Grass - etwas verschwurbelt - die radioaktive Verseuchung meint. Eine mögliche Folge, wenn die Atomanlagen tatsächlich bombardiert werden würden.

Brumlik: Dann hätte der Interviewer da härter nachgreifen müssen, was Grass wirklich meint. Meines Erachtens gibt es in Iran auch keine Atomkraftwerke, sondern Zentrifugen, die immer tiefer verbuddelt werden. Und das bestimmt nicht aus Angst vor dem Absturz eines Zivilflugzeugs.

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