Mexikanische Literatur:Zu viel Hackfleisch

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1923, in einer feuchten Wohnung in Madrid. Der alte Ramón redet und redet. Er wettert gegen alle Autoritäten. So beginnt die Familiengeschichte des Anarchismus, die Antonio Ortuño in seinem Roman "Madrid, Mexiko" erzählt.

Von Ralph Hammerthaler

Spricht der alte Ramón, hören die Jüngeren zu. Ab und an hustet er, dann aber kräftig und mehrmals nacheinander, um am Ende Blut zu spucken in einen bereitgestellten Napf. Niemand nimmt Anstoß daran. Denn Ramón wettert gegen den König, gegen Polizisten und Professoren, gegen "Aristokraten und Großbürger samt ihren frömmelnden Gattinnen, die nach Parfüm und Ehebruch rochen". Bekennender Anarchist, gibt er die "Arbeiterpresse" heraus. Doch über die Menschen macht er sich keine Illusionen, alles Kriminelle oder, netter gesagt, Wegelagerer, die schauen, dass sie mit dem Erbeuteten durchkommen.

1923, in einer feuchten Wohnung in Madrid, redet Ramón und redet. So manches leuchtet den Jüngeren und Jüngsten unmittelbar ein. Aber dass sie so geduldig ausharren, liegt an María, der schönen dunkelhaarigen Enkelin. Irgendwann würde sie ins Zimmer treten und mit ihren sanften Bewegungen alle verwirren. Der junge Yago gewinnt sie später zur Frau, während der junge Benjamín lebenslang grollt. Yago übernimmt die "Arbeiterpresse", ehe er und seine Familie vor den Turbulenzen des Spanischen Bürgerkriegs nach Mexiko fliehen. Hier kommt es zum Showdown, zwischen dem Anarchisten Yago und dem Kommunisten Benjamín, längst auch politisch entzweit. Mann gegen Mann, das wäre schön, aber dann taucht María auf, um den Zweikampf kaltblütig zu entscheiden.

"Wir sind, wer wir sind." Mit anderen Worten: Notfalls muss ein anderer dran glauben

Weit aufgespannt wird der Horizont in Antonio Ortuños neuem Roman "Madrid, Mexiko" - bis ins Jahr 2014. Es wäre kühn zu behaupten, dass das Buch gut gebaut ist, denn lange findet man sich nur schwer zurecht in den familiären Konstellationen über Generationen und Kontinente hinweg. Figur um Figur wird erfunden, sodass man vor lauter Figuren nicht eine einzige näher kennenlernt. Sogar Buenaventura Durruti bekommt einen Auftritt, der spanische Chefanarchist, dem Hans Magnus Enzensberger 1972 einen komplexen Roman gewidmet hat, "Der kurze Sommer der Anarchie". Bei Ortuño wirkt er nur wie zeithistorisches Kolorit.

Über die Familie Almansa, Yagos Familie, heißt es einmal: "Wir sind, wer wir sind". Mit anderen Worten: Notfalls muss ein anderer dran glauben. Der alte Ramón hat es schon immer gewusst: Kriminelle, Wegelagerer. Und Ortuño zeigt die Welt, wie Ramón sie sieht. Yagos Enkel Omar wächst in Mexiko auf und hat eine Liebschaft mit seiner älteren Chefin, einem üppigen Weib, noch dazu eine Verwandte. Leider haucht sie schon im ersten Kapitel ihr Leben aus, weil ein eifersüchtiger Gewerkschafter unangemeldet hereinstürmt. Ob er sie oder sie ihn erschossen hat, um kurz darauf die Pistole gegen sich selbst zu richten, lässt sich im Nachhinein nicht klären. Aber der Gewerkschafter hat einen ihm hündisch ergebenen Concho gehabt. Der hält Omar für die Ursache dafür, dass sein Herrchen tot ist, und sinnt auf Rache. Wieder kommt es zum Showdown, diesmal ganz unter Männern, Omar gegen Concho. Wir sind, wer wir sind.

Manches klingt unfreiwillig komisch und höchstens nach miesem Krimi

Bereits in "Die Verbrannten", einem Thriller über das brutale Geschäft mit Migranten aus Zentralamerika in Mexiko, ließ Ortuño spüren, dass er mehr sein will als ein Krimiautor. Dort entwarf er die Figur eines Dozenten, der seine honduranische Putzfrau im Badezimmer vergewaltigt und mit Bestürzung erkennt, dass auch er nichts weiter ist als ein Arschloch. Ortuños einfache, klare und konzentrierte Sprache weckte Hoffnungen auf einen kühl und illusionslos erzählten Gesellschaftsroman. Und es könnte gut sein, dass er diesen Roman mit "Madrid, Mexiko" vorlegen wollte.

Tatsächlich gelingen auch hier dichte, überzeugende Kapitel, die nur das Nötigste preisgeben. Aber das Krimigenre ganz abzustoßen, wagte er nicht. So erwischt einen das Blutrünstige, wenn man es wirklich nicht haben will, weil es aufgesetzt wirkt und wie ein Zugeständnis, das es nicht braucht. Es ist, als verleugne Ortuño seine literarischen Mittel, wenn er, nach einem Anschlag auf einen Bus, von "zum Trocknen ausgelegtem Fleisch" spricht, oder von einem Gesicht, das zu "Brei" geschlagen wird, nur noch "ein einziger Matsch", oder von einem Gegner, der Gefahr läuft, "zu Hackfleisch verarbeitet" zu werden. Das klingt unfreiwillig komisch und höchstens nach miesem Krimi. Warum sein mexikanischer Lektor und dann auch sein deutscher diese Ausrutscher durchgehen ließen, wissen nur der mexikanische Lektor und der deutsche.

Aber gut. Warten wir auf das nächste Buch. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

© SZ vom 27.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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