#MeToo in der Klassik:"Jemand will Kuhn kastrieren - geifernd mit dem Messer"

#MeToo in der Klassik: Leiter der Tiroler Festspiele Gustav Kuhn und der Blogger Markus Wilhelm.

Leiter der Tiroler Festspiele Gustav Kuhn und der Blogger Markus Wilhelm.

(Foto: Getty Images; privat)

Der sonnenkönighafte Gustav Kuhn leitet die Tiroler Festspiele. Der umstrittene Blogger Markus Wilhelm wirft ihm sexuelle Übergriffe und Psychoterror vor. Die Geschichte eines irren Zweikampfes.

Von Ulrike Schuster

Rosa Herzen schweben vom Schnürboden auf die Bühne, dort ist die Liebe ein Spiel, in Klingsors Zaubergarten, Probe Parsifal, zweiter Akt. Der Ritter steht auf der Leiter, sechs Blumenmädchen umtanzen ihn. Klingsor hat sich kastriert, um der Versuchung zu widerstehen und Gralsritter zu werden. "Sich die Eier abzuschneiden, ist doch keine Lösung", sagt Gustav Kuhn, 72, der Dirigent und Regisseur: "Keuschheit beginnt im Kopf." Abstinenz war nie sein Ziel. Er ist ein Jäger. "Ich liebe das Leben und die Frauen." Wider die Natur zu leiden, um zu scheitern, überlässt er Klingsor: "Ich bin kein Heiliger."

"Ein Menschenschinder ist er", befindet hingegen Markus Wilhelm. Auch er ist ein Jäger. Sein Ziel sind mächtige Männer, seine Mission "die Zustände", seine Waffe die Zuspitzung. Eine Bühne bietet ihm sein Blog dietiwag.org. Wenn er dort etwas postet, sagt er, dann "knallt's". Am Faschingsdienstag knallte es. Da veröffentlichte er einen Blog mit dem Titel "Gustav Harvey Kuhn". In der Hauptrolle: Gustav Kuhn, Regisseur der Tiroler Festspiele in Erl. Seitdem kommt der Ort nicht mehr zur Ruhe. Künstler beschuldigen Kuhn, andere verteidigen ihn. Die Erler sind gespalten. MeToo in Tirol.

"Der Aufdecker" - so nennen die Tiroler den Blogger - enthüllte vermeintliche "Erlebnisberichte" angeblicher Kuhn-Opfer: Von sexueller Belästigung bis sexueller Ausbeutung war die Rede, vom Betatschen und Begrapschen. "Alles O-Ton, unverfälscht, freilich anonymisiert", behauptete Wilhelm in seinem Blog.

Spricht man Kuhn ein paar Tage später in der Proben-Pause darauf an, gerät er außer sich: "Der Teufel soll mich holen, wenn das stimmt." Für ihn ist das alles Unfug, die "Vorwürfe von Frustrierten". Seine Einschätzung: Wilhelm betreibe "Inquisition", aufgehetzt durch die MeToo-Debatte. Der Präsident der Tiroler Festspiele, Hans Peter Haselsteiner, spricht von einem Einzeltäter: "Jemand will Kuhn kastrieren", "geifernd mit dem Messer" stehe der bereit. Beide sehen in dem Blogger einen Rufmörder.

Dieser wiederum kontert: "Schweinereien müssen ans Tageslicht." Er hasse alles, was nach "unter einer Decke" rieche. Seine Beweise seien Treffen und Telefonate mit "verlässlichen und vertrauenswürdigen" Menschen, die zur Zeit oder in der Vergangenheit bei den Festspielen gearbeitet haben, außerdem E-Mails, einige anonym, andere mit Unterschrift. "Für die Authentizität steh' ich mit meinem Namen." Warum er dennoch alle Mails ohne Namen veröffentlicht? Wilhelm: Kuhns Musiker haben Angst, sie wollen ja in der Szene noch was werden.

Die italienische Violinistin Ninela Lamaj hat keine Angst. Sie hat Wilhelm ihren Namen genannt. Acht Jahre lang spielte sie die erste Geige in Erl. Sie nennt Kuhns System "gestört" und ihn einen "Diktator", aber auch einen "Traumverkäufer", er nähre Karrierehoffnungen. Kuhn hat einen Doktor in Psychologie und Psychopathologie. Für sie ist er ein Mann mit "zwei Gesichtern". Mal der großherzigste Vater, mal der "Psychoterrorist". Sie sagt: "Kuhn ist ein Berlusconi."

Eine Flötistin habe ihr erzählt, wie Kuhn einen Blow-Job verlangte, eine Sängerin habe sich ein ärztliches Attest besorgt, um Kuhn nicht begegnen zu müssen. Sie selbst sei gewarnt worden, sagt Lamaj. In der letzten Saison habe sie Kuhns Hand auf ihrem Hintern gespürt, seine Lippen auf sie zukommen sehen und "Aus" gesagt. In dieser Saison spielt Lamaj nicht mehr die erste Geige in Erl. Im Übrigen kenne sie aber keinen Dirigenten oder Regisseur, der nicht ein ähnlich aggressives Ego habe: "Jeder glaubt, sich alles nehmen zu dürfen." So wie der Maestro.

So nennen Kuhn alle im Festspielhaus, "Maestro" steht sogar auf seinem Parkplatz. Kuhn ist ein Bacchus, bärenstarker Leib, gefüllt mit der Energie für drei Leben. Eines davon hätte glanzvoller nicht beginnen können: Karajan, die Scala, die Wiener Philharmoniker. Aber mit 40 Jahren ließ er "Opernkäse mit Stimmenporno" (Kuhn) hinter sich und fing in der Provinz als Rebell neu an. In Erl fand er 1500 Einwohner, 1200 Kühe und ein Passionsspielhaus. Hier errichtete er sein Imperium.

Kuhns Deal lautete: musikalische Leidenschaft gegen niedrige Löhne

1997 gründete er die Tiroler Festspiele, Erl sollte das bessere Bayreuth werden. Musizieren wollte er mit den Jungen, die glühen und sich verschwenden. Für den Nachwuchs gründete er im toskanischen Lucca die "Accademia di Montegral", "ein geistiges, sokratisches Zentrum, das nicht die kommerziell abhängige Entwicklung des Menschen fördert", sondern die ganzheitliche Entfaltung "in Liebe zur Musik", so steht es auf der Webseite. In seinem Buch "Aus Liebe zur Musik" schreibt Kuhn dazu, keiner solle ihnen vorschreiben, wie sie zu leben haben. In Erl und in Lucca galt: so wenige Regeln wie möglich, so viel Bürokratie wie nötig. Kuhns Deal lautete: musikalische Leidenschaft gegen niedrige Löhne.

Im August 2012 konfrontierte ihn die Sängerin Elisabeth Kulman in der Sendung Servus TV: "Sie zahlen ein Sechstel der üblichen Gagen." - Kuhn: "Die Ausgebeuteten wollen alle wiederkommen." - Kulman: "Die Leute haben Angst vor Ihnen, mich rufen und schreiben Sängerinnen an." - Kuhn: "Ich bin ja auch ein schrecklicher Mensch."

Seit dieser Sendung hat Markus Wilhelm den Dirigenten, Regisseur und künstlerischen Leiter der Festspiele, also Kuhn, im Visier. Wilhelm hat verfolgt, wie Kuhns Macht wuchs, wie ein "Kuhniversum" entstand, wie die Leute in Erl sagen.

Denn seit 2012 herrscht Kuhn über ein Doppel-Reich. Kuhns Mäzen Haselsteiner, Milliardär und Chef des österreichischen Baukonzerns Strabag, stellte ihm für 20 Millionen Euro ein Opernhaus, den "schwarzen Diamanten", direkt neben das Passionsspielhaus auf den Hügel. Dort thront es zwischen Kirchturm und Bauernhäusern. In den Augen Gustav Kuhns ein Geschenk an seine Künstler: "Ich will von meinen Musikern geliebt werden."

Festspielhaus Erl

In Erl errichtete Gustav Kuhn ein Musik-Imperium. In der Mitte glänzte dunkel der „schwarze Diamant“, das Festspielhaus.

(Foto: Kerstin Joensson/ddp images)

Markus Wilhelm will gefürchtet werden. Er ist ein Einzelgänger, hat 18 Schafe, kein zweites Haus vor dem Fenster. Er ist seit fast 40 Jahren als Publizist im Geschäft. Bewunderer und Gegner sagen: "Wilhelm beißt sich fest, und am Ende bist du erledigt." Zur Zeit liest Wilhelm "Immer gegen die Justiz! Polemiken und Pamphlete" von Walther Rode und die "Ketzereien" von Günther Anders, er ist ein Moralist und Geheimsniskrämer.

Besucher empfängt er nicht in seinem Haus in Sölden, seinem "Refugium", sondern beim Mexikaner im Ötztal. Wilhelm, 62, trägt Jeans, Rollkragenpulli, ein unscheinbarer Typ, hager, aber zäh. Um zu leben, vermietet er Ferien-Appartements, drei von vier. Eins ist von seinem "Archiv" auf Dauer belegt, dort lagert er Dokumente und Fotos seiner Recherchen. An diesem Wintermorgen hat er einen neuen Karton hineingeschoben, Aufschrift: "Gustav Harvey Kuhn".

"Er wird zum Schlächter und wir zu Schafen auf der Schlachtbank gemacht"

"Bis jetzt war die Zeit noch nicht reif für den Klick", sagt Wilhelm, "manchmal muss eine Geschichte wie ein guter Speck abhängen." Aber dann, nach fünf Jahren, kam der Fall Weinstein, die MeToo-Debatte. Folgt man Wilhelm, haben sich die Frauen an Gustav Kuhn erinnert - und an ihn. Wilhelms Telefon klingelte, sein Maileingang lief voll. Er selbst erinnerte sich an ein Foto vom 25. Juni 2012, aufgenommen für die Kronen Zeitung, das er Silvester 2017 aus seinem Archiv hervorholte: Kuhn hockt auf dem Boden, grinst breit. Auf ihm und um ihn herum kauern acht Frauen, halb nackt, in durchsichtigen Bodys. Zwei schlingen die Beine um seine Schenkel, die anderen die Arme um seine Brust, keine scheint älter als 25 zu sein. Wilhelm blickte auf das Feuerwerk und wusste: "Mit dem Bild knallt's." Am Faschingsdienstag war es dann so weit. Wilhelm sticht - wie damals - mit dem Zeigefinger von oben auf die Computertaste: "Klick." Nach einer einstweiligen Verfügung sind mittlerweile alle Vorwürfe zu angeblichen sexuellen Übergriffen in Wilhelms Blog geschwärzt.

Kuhn hat für das Foto eine einfache Erklärung: "Alles Erler Mädchen." Er kenne die Frauen seit dem Sandkasten. Sie spielten in der Venusberg-Szene seines "Tannhäuser" mit. In der Probenpause sei das Foto entstanden: "Wir hatten alle einen Riesen-Spaß."

Die Musiker im Festspielhaus sind ohnehin empört über die Vorwürfe. Für sie ist der Maestro das Opfer einer Hetzkampagne. "Er wird zum Schlächter und wir zu Schafen auf der Schlachtbank gemacht", sagt die Mezzosopranistin Alena Sautier. Dabei hole der Maestro das Beste aus ihnen heraus, sagen sie alle. Er erkenne ihr Potenzial, achte auf Disziplin. Sie sagen: "Keiner fordert uns mehr, keiner fördert uns mehr." Für den Bassbariton Frederik Baldus ist Kuhn der "liebende Vater", dem es gelungen sei, eine einzigartige Familie zu erschaffen. Ein Ausnahme-Künstler, der vor Konfrontationen nicht zurückscheue. Die sich-äußernden Frauen? Neider. Im Wettbewerb Gescheiterte, zu schwach für das Geschäft. Michael Kupfer-Radecky, der Klingsor, sagt: "Künstlerische Kritik hält nicht jeder aus, die ist immer intim." Was man auch hört: Die Metoo-Debatte mache Frauen zu Hexen.

Draußen im Dorf hängt der Nebel, totenstill ist es. In den Wirtshäusern brennt das Licht. Hier nennen sie Kuhn den Erl-König. Ein Wirt, der seinen Namen nicht gedruckt sehen will, sagt: "80 Prozent der Mädchen lagen ihm freiwillig zu Füßen, aber was ist mit den anderen 20 Prozent?" Die sechs Männer am Tresen senken die Köpfe, nur einer sagt: "Redet man heute über ihn, redet er morgen über dich, ein mächtiger Mann, der Kuhn." Im zweiten Wirtshaus sitzen Männer nach einer Skitour. Einer sagt: "Kuhn spielt mit offenen Karten." Ein zweiter sagt: "Acht Kinder von sieben Frauen lässt sich nicht verheimlichen." - "Wir sind doch alle keine Heiligen", sagt ein Dritter und dreht am Ehering.

Burgi Neuschmid war im Passionsspielhaus Bühnenarbeiterin, heute ist sie Rentnerin. Kuhn kennt sie seit 30 Jahren. "Ein Kind von Traurigkeit war der nie." Viele Frauen habe Kuhn immer gehabt. Wilfriede Hauser war 14 Jahre lang Kuhns persönliche Assistentin, bis 2012. Sie sagt: "Aufgedrängt haben sich ihm die." Und: "Zogen die Sängerinnen ihre Bluse für mehr Dekolleté immer weiter nach unten, habe ich mich geschämt, eine Frau zu sein."

Michael Carli hat bis 2001 als Geschäftsführer der Festspiele für Kuhn gearbeitet. Er sagt es so: "Die einen hatten Sex mit ihm, die anderen hätten gerne Sex mit ihm gehabt." Abends nach der Probe in der Wirtschaft fehlten am Ende immer zwei Personen am Tisch: "Erst war Kuhn weg, danach die Musikerin." *

Kuhn hat den Blogger wegen Verleumdung verklagt. Die einstweilige Verfügung war bereits erfolgreich, die Richterin urteilte: Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, Vorverurteilung, Selbstjustiz im Internet, Wilhelm sei den Wahrheitsbeweis schuldig geblieben.

Thomas Nußbaumer, Professor am Mozarteum Salzburg, erstattete hingegen Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck gegen Kuhn und die Tiroler Festspiele wegen mutmaßlicher sexueller Übergriffe. Nußbaumer will Klarheit, ob er seinen Studierenden die Mitwirkung bei Kuhns Projekten noch empfehlen kann oder ob er ihnen abraten soll. "Kuhns cholerisches Verhalten ist bei uns schon lange Thema", sagt er. Bei "Grenzüberschreitungen" sei man an Kunstuniversitäten inzwischen sensibilisiert.

Gustav Kuhn wird auf Markus Wilhelm zum ersten Mal vor Gericht treffen. Das hatte sich der Blogger gewünscht. Wenn er vor Gericht stehe und ihm der Prozess gemacht wird, spüre er seine Arbeit wirken, sagt Wilhelm. Alle haben gegen ihn prozessiert, die Tiroler Wasserkraftwerke, der Landeshauptmann Herwig van Staa, die Industriellenvereinigung, ein Tourismusunternehmen. Immer warfen sie Wilhelm Verleumdung, üble Nachrede, Kreditschädigung vor. Immer warf ihnen der Blogger Korruption, Machtmissbrauch, Misswirtschaft vor. Am Ende musste immer ein Funktionär gehen.

Möglicherweise sei eine Frau bereit, eine eidesstattliche Aussage vor Gericht zu machen, kündigt Markus Wilhelm an, er stehe in Kontakt mit ihr. Noch halte er "einige Geschütze" zurück. Bislang sei in Erl nicht einmal der erste Akt vorüber.

* Anmerkung der Redaktion: In der Ursprungsfassung dieses Beitrags wurde Michael Carli mit der Aussage zitiert, Gustav Kuhn habe die Vergabe weiblicher Hauptrollen im Rahmen der Tiroler Festspiele Erl von der Bereitschaft sexueller Gegenleistungen abhängig gemacht. Diese Behauptung hat Michael Carli in Erfüllung eines Versäumnisurteils des Landgerichtes Innsbruck (Az.: 18 Cg 65/18k) widerrufen.

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