MeToo:Explodierende Hamster

Essays zur "Me Too"-Debatte: Eine Anthologie über die Frage, wo Konsens aufhört und Gewalt anfängt.

Von Lea Schneider

Anfang 2018, auf dem Höhepunkt der "Me Too"-Debatte, war immer wieder der Einwand zu hören, der Hashtag und die an ihn anschließenden Diskussionen reduzierten alle Frauen auf eine passive Opferrolle. Dieser Vorwurf mag absurd erscheinen gegenüber einer Kampagne, deren wesentliches Ziel es war, Opfern von sexueller Gewalt überhaupt erst die Möglichkeit zu geben, sich aus einem passiven Zustand des beschämten Schweigens zu befreien. Die meisten der literarischen Publikationen, die in der Folge erschienen, konzentrierten sich aber tatsächlich beinahe ausschließlich auf die Thematisierung von Hilflosigkeit und täglich präsenter Angst. Die Frage, wie sich der Status quo verändern ließe, wurde kaum gestellt.

Ganz anders verfährt der nun mit einem Jahr Abstand zur Debatte erschienene Sammelband "Freie Stücke". Als Geburtstagsgeschenk zum zehnjährigen Bestehen des feministischen "Missy Magazin" konzipiert, dreht er das Thema um und fragt nach den Handlungsoptionen: Fünfzehn sehr unterschiedliche Schreibende haben die Herausgeberinnen Sonja Eismann und Anja Mayrhauser eingeladen, Ideen von Flirten, Sex, Körper und Beziehung zu entwickeln, die einen Weg aus der sexuellen Dominanzkultur heraus weisen.

Es sind sehr unterschiedliche Essays und Kurzgeschichten, aber alle drehen sich um Konsens und Selbstbestimmung: Manche sind klar fiktional und wollen Geschichten erzählen, andere befassen sich eher analytisch mit eigenen Lebenserfahrungen und -praktiken, und bei Weitem nicht alle handeln (nur) von Sex. Sibel Schick etwa beschäftigt sich in einem klugen, persönlichen Essay mit dem langen Leidensweg, der für fast jedes Teenagermädchen mit dem ersten Haarwuchs auf Beinen, Genitalien und allen übrigen Körperteilen beginnt. In einem mühelosen Bogen wandert der Text von der Großmutter, die dem zehnjährigen Mädchen gegen seinen Willen mit bloßen Händen die Achselhaare ausreißen will, zu einem kurdischen Liebhaber, der ihr nach dem Sex ein zu tief hereingerutschtes Tampon herauszieht: "Eine Nahgeburterfahrung. Er ist meine Hebamme."

Mit dem Gehalt einer Putzfrau helfen auch 77 freie Tage im Jahr wenig

Mindestens ebenso komisch liest sich Joey Juschkas Geschichte über eine utopisch-dystopische Welt, in der Frauen zwischen Option A und Option B wählen können: Vollständige Anpassung ihres Gehalts an das ihrer männlichen Kollegen, oder bezahlter Urlaub bis zum Equal-Pay-Day, dem Tag im Jahr also, bis zu dem sie verglichen mit ihren Kollegen statistisch gesehen umsonst gearbeitet haben. Das klingt zunächst nach einer revolutionären Verbesserung, aber Juschka weist darauf hin, dass mit dem Gehalt einer Putzfrau auch 77 Tage Urlaub nicht unbedingt das Paradies auf Erden sind. Bettina Wilpert hingegen führt eine unaufgeregte, nachdenkliche Liste ihrer verschiedenen Orgasmus-Erfahrungen und auch Anke Stelling befragt die eigene sexuelle Biografie vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte, in der sie stattfindet. Die beiden interessantesten Beiträge des Bandes aber stammen von Jacinta Nandi und Christian Schmacht.

Schmacht gelingt es, in einer einzigen verdichteten Denkbewegung von eigenen Vergewaltigungserfahrungen über die Lust an Passivität und den Mangel an dominanten Sexpartnern auf dem queeren Datingmarkt bis zu den Lügen von innerer Emigration und Mitläufertum im Dritten Reich zu gelangen und dabei komplexe ethische Fragen zu stellen, ohne zu moralisieren. Und Nandi erzählt eine Familiengeschichte, in der die ungelösten Probleme und verschwiegenen Erlebnisse so beiläufig zwischen absurden Alltagsmomenten stehen, wie sie das in der Realität eben auch meistens tun. Sie benennt, dass ihre Figuren versehrt sind, sie das aber nicht daran hindert, alberne Witze zu machen, ans Meer zu fahren oder anderen Versehrungen zuzufügen.

Sie beginnt mit der Mutter, die "ein bisschen rassistisch geworden ist, jetzt wo sie alt und behindert ist", und die vor Wut lachend davon erzählt, wie sie sich als nordenglisches Arbeiterkind gegen eine Vergewaltigung auf dem Schulweg verteidigt hat, und endet bei der Erzählerin, die ihre eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt als weniger traumatisch einstuft als die Erinnerung an den explodierten Hamster der Schwester. Nandis große Stärke liegt darin, dass sie keinerlei Helden anbietet: Alle Figuren in ihrer Geschichte erweisen sich am Ende als genauso kompliziert und imperfekt wie die gesellschaftliche Realität.

Sonja Eismann, Anna Mayrhauser (Hg.): Freie Stücke. Geschichten über Selbstbestimmung. Nautilus, Hamburg 2019. 159 Seiten, 16 Euro.

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