Mensch und Wille:Gott zu spielen macht müde

Tägliche Balance zwischen weltberühmt und arbeitslos: Die unendlichen Sex-, Drogen- und Erfolgsmöglichkeiten machen den freien Menschen unfrei.

Sven Hillenkamp

Es existieren nicht mehr die zwei Welten: hier die taghellen Räume der Arbeits- und Familienwelt, dort die finsteren Gewölbe des Exzesses. Die Drogen- und Sexmöglichkeiten, die Verschlafens- und Nichtstu-Möglichkeiten, die Flucht- und Selbstzerstörungsmöglichkeiten liegen auf derselben Ebene wie die Diät- und Arbeitsmöglichkeiten, Erfolgs- und Berühmtheitsmöglichkeiten, die unendlichen Möglichkeiten der Selbstbeherrschung und Selbstverbesserung.

Mensch und Wille: Fear and Loathing in Las Vegas: Sportjournalist Raoul Duke und sein Anwalt Dr. Gonzo nehmen ihre Arbeit nur sehr am Rande wahr - wichtiger ist ihnen ihr massiver Drogenkonsum, während sie denAmerican Dreamsuchen. Der freie Mensch pendelt täglich zwischen weltberühmt und arbeitslos.

Fear and Loathing in Las Vegas: Sportjournalist Raoul Duke und sein Anwalt Dr. Gonzo nehmen ihre Arbeit nur sehr am Rande wahr - wichtiger ist ihnen ihr massiver Drogenkonsum, während sie den

American Dream

suchen. Der freie Mensch pendelt täglich zwischen weltberühmt und arbeitslos.

(Foto: Foto: oH)

Was einst in moralisch getrennten Sphären existierte, ist jetzt tatsächlich ein unendliches Anziehungsfeld. Man kann zuerst, in der Jugend, das eine tun, später das andere. Man kann beides gleichzeitig tun - work hard, party hard. Und man kann mit verteilten Rollen spielen, es literarisch lösen.

Was die Figur sich antut, die Selbstzerstörung, und was der Autor eventuell erreicht, die Berühmtheit, ist gleichermaßen Teil der unbegrenzten Möglichkeiten. Inklusive des Zusammenhangs: dass die Figur sich zerstören muss, damit der Autor berühmt wird. Das mag nicht Kalkül sein - die Beschreibung des Unglücks ist Aufgabe der Literatur -, nur Logik des Systems.

Einst war alles Prestige ans Sein geknüpft: den Adel, die edle Herkunft. Dann ans Haben, den Besitz. Jetzt ist es ans Tun gebunden: die außerordentliche Leistung, das künstlerische Werk sowie - die jüngste Entwicklung - ans Leiden.

Je furchtbarer die Krankheit, je schwerer das Trauma, je schmerzbeladener der eigene Lebensweg, desto mehr Prestige gewinnt, wer dies öffentlich zum Ausdruck bringen kann. So gehen das Leiden, also die totale Passivität des Opferseins, und die Leistung, also die hemmungslose Aktivität des Schaffenden, des Künstlers, eine eigentümliche Verbindung ein.

Es existiert eine doppelte Lust: zum einen an der Subjektwerdung des Menschen, der endlich über sein Schicksal triumphiert, indem er es mittels einer Erzählung in seine Persönlichkeit integriert und es annimmt. Das ist es, was Nietzsche unter dem Willen zur Macht verstand. Zweitens, indem er sich erfreut an der Beschreibung des (überwundenen) Objektstatus: des Depressivseins, Krankseins, Süchtigseins, Ohnmächtigseins.

Vielleicht haben die freien Menschen, die ihr Leben in jedem Augenblick in der Hand haben sollen, auf seltsame Weise Sehnsucht nach diesem Objektstatus. Sie wollen Geschichten über Taumelnde und Heimgesuchte hören, weil sie müde sind ihrer Gottesrolle, müde, der permanente Schöpfer des eigenen Schicksals zu sein in Liebe und Arbeit, Karriere und Therapie, Glücks- und Gesundheitsstreben. Gott möchte also Hiob sein: Spielball, nicht Akteur. So ist noch der Sturz in die Selbstzerstörung paradoxe Rückkehr in die große Geborgenheit - denn wir sind in Deiner Hand.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum plötzlich ein jeder Künstler sein will.

Müde geworden vor der Zeit

Eine Geschichte: R., der mit sechzehn Jahren aus dem sogenannten Elternhaus hatte ausziehen müssen, fand, dass seine Kindheit als Kindheit keineswegs ausreichend gewesen sei, und beschloss, sich mittels harter Drogen, Medikamenten, Alkohol und permanenter Obdachlosigkeit so schnell wie möglich zugrunde zu richten, damit er wieder in den Genuss der Kinderrechte käme.

Mit neunundzwanzig Jahren hatte R. fast alle Zähne verloren und konnte kaum noch aufrecht gehen. Er wurde im betreuten Wohnen nach mehreren vergeblichen Bewerbungen endlich glücklich an- und aufgenommen. R. sagte: "Um älter zu werden, muss man auf seine Gesundheit achten, um jünger zu werden, auf seine Zerstörung."

Hier vereint sich, was bereits im Ursprung verbunden war. Die romantische Idee der seelischen, erotischen und künstlerischen Selbstverwirklichung ist ja blutsverwandt mit der sogenannten Schwarzen Romantik, der Idee der unabwendbaren Selbstzerstörung, der seelischen Krankheit und Depression.

Die Hölle im Selbst

Der träumerische Werther tötete sich selbst, ein Bruder des Novalis war Edgar Allen Poe. (Hier findet sich auch schon der Gedanke, dass die Dekadenz von den Eltern auf die Kinder kommt, dass es sich um einen Zerfall über Generationen hinweg handelt, die Kinder die exzessive Lebensweise von den Eltern übernehmen: in jeder 68er-Familie der Untergang des House of Usher.) Naturgemäß finden die romantisch-freien Menschen, die von ihrem Selbst das Heil erhoffen, auch in ihrem Selbst die Hölle.

Es gibt, historisch, zwei Wege, sich Zwängen auszuliefern. Der Untertan identifizierte sich mit der äußeren Welt, die ihn unterdrückte, mit seinen Unterdrückern. Der Rebell dagegen identifiziert sich mit seiner inneren Welt, mit seinen Wünschen, Begierden, Träumen und Hoffnungen - die ihn ebenso unterdrücken.

Der Mensch gleicht einem kleinen Land, das zwischen zwei Großreichen liegt, Außenwelt und Innenwelt. Sie wollen das kleine Land Mensch immerfort besetzen, unterwerfen. Und meist gehen sie zu dem Zweck ein Bündnis ein: Die Unterdrücker in der Außenwelt schließen einen Pakt mit der Angst in der Innenwelt. So war es in der alten, unfreien Gesellschaft; so entstand der Untertan.

In der freien Gesellschaft dagegen schließen die unendlichen Möglichkeiten in der Außenwelt einen Pakt mit den unendlichen Begierden und Hoffnungen in der Innenwelt. So entsteht der freie Mensch. Dieser Pakt ist es, der dem freien Menschen zum Verhängnis wird; der dazu führt, dass er Außenwelt und Innenwelt gleichermaßen unterworfen ist; dass er zum Selbstzerstörungs- wie Selbstverbesserungsexzess verurteilt ist.

Permanente Scham

Die freien Menschen wollen Künstler sein. Sie haben eine Sehnsucht nach dem Rausch und eine Kunstsehnsucht. Sie wollen ihr Leiden (und ihren Rausch) in Kunst verwandeln.

Ein Mann, kerzengerade sitzend, die Hände auf den Knien, schrie: "Geburt und Geld bedeuten heute nichts mehr! Aber wenn man so ein kleines Büchlein verfasst hat, da ist man ein Künstler! Ich kann das Wort nicht mehr hören. Jeder ist heute ein Künstler. Vielmehr, jeder will es sein. Wer es nicht ist, wird verachtet. Ein vorgeblich literarisches Wörtchen wiegt mehr als zwanzig Millionen Euro. Drei Tage Berichterstattung schlagen eine Jahrhunderttradition. Was ist das für eine Welt?"

Natürlich - es ist gut, dass ein Buch mehr als ein Titel wiegt; dass Talent Tradition schlagen kann. Man muss aber auch den Schmerz in Rechnung stellen. Die Menschen, die in die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten eingetreten sind, wo Freiheit umgeschlagen ist in Zwang - diese Menschen leiden unter permanenter Sehnsucht und Scham, weil sie notwendig hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben.

Zwei Dinge versetzen sie in permanente Unruhe: die Unendlichkeit über ihnen und das Nichts unter ihnen, in das sie jederzeit stürzen können. Alle Zusammenhänge, in die der Mensch sich begeben kann, drohen permanent mit Kündigung. Aus dem Unternehmen, dem Team, der Kunstgalerie, der Mannschaft, der Liebesbeziehung kann das Individuum jederzeit entlassen werden. Die freien Menschen balancieren täglich zwischen weltberühmt und arbeitslos. Bereits die Familie hat sich im Fall der meisten bereits als Gemeinschaft auf Abruf erwiesen, kündbar, liquidierbar.

Das Nichts unter uns

Jedoch, die freien Menschen stürzen auch in der Zeit ins Nichts. Denn der Mensch ist ja bereits, was er werden wird. Der Bäckerssohn ist stolz darauf, einmal ein Bäcker, der Königssohn, einmal ein König zu sein. Wer weiß, was er wird, dem gehört die Zukunft.

Aber auch dem anderen, der es nicht weiß, gehört bereits die Zukunft. Auch er ist, was er werden wird - also ein Nichts. Da er nicht weiß, was er werden wird, schämt er sich, in seiner Zukunft nichts zu sein. Seine Angst ist unerträglich. Er lebt auf das Nichts hin, ist bereits das Nichts. Jeden jungen Menschen trifft heute dieser Schock - und er hält ihn fest, bis es keine Zukunft mehr gibt.

Diese Scham, diese Angst, die Unerträglichkeit des Nichts, lassen die freien Menschen Erlösung im Rausch suchen, in Drogen und Sex, Tanzen, Selbstauflösung - und ebenso in Künstler- und Berühmtheitsphantasien.

Vor der einen Unendlichkeit flüchten sie in die andere, vor der furchtbaren Freiheit des Tages, des Alles-werden-Könnens, in das Alles-machen-Dürfen, die Freiheit der Nacht, die nicht minder furchtbar ist, vor dem Nichts ihrer Zukunft in das Nichts der Existenzauflösung. Und dann, jeden Montag, müssen sie zurück in den Tag.

Die freien Menschen sind, was Tschechow die "vor der Zeit Müdegewordenen" genannt hat. Ermüdet durch die Flucht in Zerstreuung und Erregung - handele es sich um die Erregungen der Nacht, des Kunst- und Kulturbetriebs, der Rebellion oder Karriere.

Die Grenzen des Gewöhnlichen

Ermüdet auch durch das Bewusstsein aller Muster und Mechanismen. Denn die freien Menschen haben nicht nur die Freiheit zur totalen Bewusstseinsauslöschung, sondern auch die zur totalen Bewusstseinsbildung. Psychologie, Soziologie, Philosophie fliegen ihnen von allen Seiten zu. Sie betrachten sich selbst mit den Instrumenten der Wissenschaft. Lange bevor sie eine Erfahrung gemacht haben, wissen sie schon alles, können sie alles benennen. Auch darum sind sie - noch einmal Tschechow - "ermüdet bis zur Ironie".

Aus einem Büchlein über Billy, einen Menschen von unbestimmbarem Alter: "Der Mensch wird nicht nur einmal alt", sagte Billy. "Auch Kindheit, Jungsein - jede Lebenszeit hat ihr Greisenalter: Da alles längst bekannt ist, alles schal, da das Leben nur noch aus Wiederholungen besteht, vielmehr: aus der Unmöglichkeit der Wiederholung des ursprünglichen Erlebnisses, der ursprünglichen Empfindung.

Das Alte hat kein Leben mehr, nichts Neues kommt hinzu. Man erkennt die Greise an ihren schlaffen, gekrümmten Körpern, trüben Augen, Alles-schon-gesehen-Gesichtern, sie mögen sieben Jahre alt sein, fünfzehn, fünfundzwanzig, vierzig oder neunzig. Sie sind müde, indolent, voll Zorn und Überheblichkeit, verborgen hinter der lächelnden Maske der Illusionslosigkeit. Ich bin einer von ihnen. Wie oft bin ich schon alt gewesen! Uralt", sagte Billy. Billys Exzesse hatten alle Grenzen überschritten - außer denen des Gewöhnlichen.

Sven Hillenkamp ist Autor des Buchs: "Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit", das 2009 bei Klett-Cotta erschienen ist.

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