Dieser Text verdankt seine Entstehung zwei scheinbar nicht zusammengehörenden Inspirationsquellen.
Zum einen dem unbestechlichen und gerade in seiner Logik brillanten Gedanken, den der Kollege Axel Hacke an den Anfang seiner Kolumne im letzten SZ-Magazin stellte: "Eines der größten Probleme der Welt ist", entfaltet Hacke da, "dass die Dinge nicht dort sind, wo sie hingehören. Nehmen wir den Winter. Im Winter ist es kalt. Der Mensch hätte es gern warm, er müsste sich dringend mal die Sonne auf den Pelz scheinen lassen; das geht aber nicht, weil Kälte herrscht. Ausgerechnet dann, wenn wir am dringendsten Wärme bräuchten, im Winter nämlich, herrscht Kälte! Das ist absurd."
Das ist natürlich absurd, aber eine wunderbare Beobachtung bleibt es trotzdem. Man könnte fortspinnen: Ausgerechnet, wenn wir Licht am nötigsten brauchen, in der Nacht nämlich, dann ist es dunkel. Oder: Ausgerechnet, wenn es am stärksten regnet, dann regnet es auch noch - oder so ähnlich.
Die zweite Inspiration für diesen Text war eine wirklich wunderbare Fotostrecke auf der Seite von Ragnar Schmuck (Wir können aus Urheberrechtsgründen leider nur darauf verlinken, obwohl wir einige Bilder schrecklich gerne selber gezeigt hätten), die festhält, was Menschen in Clubs nachts so alles verlieren.
Es ist schier unfassbar! Von der Brille, der Uhr, dem Geldbeutel und den Schlüsseln reden wir hier gar nicht, das ist eh klar.
Aber Büstenhalter?
Rohrzangen?
Einen(!) hochhackigen Pumps?
Die hochgeschätzte "Ausweitung der Kampfzone" des geschätzten Autors Michel Houellebecq?
Wie nun bringt man die erste mit der zweiten Inspirationsquelle zusammen, und was haben sie gemeinsam? Nun, ganz einfach! Immer fehlt etwas, immer ist etwas nicht da, wo man es anzutreffen hofft, bzw. etwas ist dort, wo es nicht hingehört.
Man denkt, die Menschen halten ihr Dinge zusammen wie ihr Innerstes, und muss dann plötzlich erkennen: sie entäußern sich. Sie verlieren das, was sie unmittelbar am Leib tragen offenbar so achtlos wie ein herbstlicher Baum seine Blätter. Was ist da los?
Also haben wir ein bisschen Recherche betrieben und nachgeschaut, was Menschen in Hotels zurücklassen oder auf Flughäfen. Es ist der Hammer! (Hammer jetzt im übertragenen Sinn, das Werkzeug ist aber ganz sicher auch irgendwo bei den Verlusten.) Die britische Daily Mail hat für das Jahr 2011 die (Trophäen!-) Sammlung einer Hotelkette aufgelistet. So wunderbare Dinge sind darunter wie ein Koffer voller pinkfarbener Büstenhalter, eine Uhrensammlung im Wert von 50.000 Pfund, sie lag neben dem Autoschlüssel für einen Ferrari. Vergessen worden! Wie auch ein 18 Monate altes Baby, eine Kollektion von Designer-Outfits für Hunde, eine Urne (!) mit sterblichen Überresten, ein ausgestopfter Papagei, mehr als 100 Masken von Kate Middleton, der Duchess of Cambridge (Warum besitzt jemand 100 Masken von Kate und vergißt sie dann ("sie" im Singular und im Plural!), ein "Toby Jug", das sind Tassen mit Gesicht, aus dem Jahr 1780. Der Besucher war eigens angereist, um 3000 Pfund dafür auszugeben - und hat dann vergessen, diese altertümliche Scheußlichkeit mit nach Hause zu nehmen?
Zwei lebensgroße Mr. Blobby-Kostüme, das ist so etwas wie Barbapapa aus England, eine kegelförmige, altrosa Figur mit großen, gelben, kreisrunden Flecken ... zwei Kostüme? In einem Hotelzimmer? Vergessen? Das kann doch keiner erzählen!
"In jedem Jahr", so ein Sprecher der von der Daily Mail befragen Hotelkette, "füllt sich unsere 'lost and found box' mit einigen 'remarkable items'." Bemerkenswerte Dinge sind das? Nur? Nur bemerkenswert? Hossa! So kann nur England klingen.
Dafür auch sehr schön, was die amerikanische Southwest Airlines so alles an Vernachlässigtem aufgabelt. Ein 10.000-Dollar-Verlobungsring, ein Super-Bowl-Ring - gut, man kennt den Verlobungsring nicht, aber den Super-Bowl-Ring müsste man aus rein ästhetischen Gründen immer und überall zurücklassen.
Kindersitze fürs Auto sind ein Top-Vergesser in den USA, auch Cowboyhüte und Anzug-Jacketts, aber auch: Krücken!! Krücken? Wie kann man denn die vergessen? Von spontanen Massen-Genesungen am Flughafen hört man ja wenig. Robbt dann also jemand durch die Abfertigungshalle und merkt's selber nicht? Aber auch hier am Airport immer wieder gerne vergessen: Einzelne Schuhe.
Einzeln, das macht es ja so absurd. Würden beide vergessen, sagen wir, man hat ein Nickerchen am Gate gemacht, wird aufgerufen, stapft ins Flugzeug und die Schuhe bleiben - sagen wir - in Berlin Tegel zurück. Das kann passieren, das merkt man erst, wenn man in München aus der Halle in den Schneematsch tritt. Aber ein einzelner Schuh? Himmel, das muss einem doch selbst beim müden Gehen auffallen, dass da was nicht stimmt, da unten.
Und der Herr oder die Dame, die ihr Beatmungsgerät vergessen hat? Was ist mit jener Person? Plötzliche Schnappatmung und keinem fällt etwas auf? "Opa, Oma, hattest du nicht immer so eine Maske wie Dennis Hopper in 'Blue Velvet'"? - "Ach Kindchen! Richtig. Der Püsterich ist weg. Wo habe ich ihn nur hingelegt .... Röchel!" - "Schnell, schnell, es ist etwas mit Oma/Opa!"
Dramen also, sage ich, sind es, die sich da im Zurücklassen abspielen. Und was die beiden Herrschaften mit den Mr. Blobby-Kostümen in dem Hotelzimmer angestellt haben, will man auch gar nicht wissen.
Jedenfalls sind die Dinge nicht da, wo sie hingehören. Nie sind sie da. Und immer öfter nie. Das ist schon mal klar, und ja, es ist ein Lebenstrend. Darum gibt es diese wirklich schöne Hilfsseite für Vergessliche, auf der Schritt für Schritt in leicht verständlichen 17 Einheiten erklärt wird, wie man sich daran erinnern lernt, Dinge wiederzufinden. Sehr gelungen ist Punkt Neun: Tun Sie so, als ob Sie das vergessene Ding benutzen! Und gehen Sie dann an die Stellen, die Ihnen zuerst durch den Kopf schießen! Sagenhaft.
Immer mehr also fehlt etwas, und doch scheint niemand mehr das Fehlen zu bemerken. Man hat sich ans Fehlen gewöhnt. Es ist scheinbar mit den Dingen wie mit Axel Hackes Kälte. Das, was man am sehnsüchtigsten benötigt, die Wärme, sie fehlt, und Menschen, die diesen Winter im südlichen Deutschland verbracht haben und (immer noch) verbringen, müssen zustimmen: Man bemerkt das Fehlen der Wärme nicht, weil man sie sich nicht einmal mehr vorstellen kann.
Ist es so mit dem Mensch und seinen Dingen? Eh wurscht, dass sie weg sind? Oder haben wir nicht einmal mehr geglaubt, sie je besessen zu haben.
Zum Abschluss was Schönes: Douglas Cheng, er ist Manager von Taiwans größter Fluggesellschaft "China Airlines", hat am 19. Februar 2013 eine Foto-Kamera am Strand von Taitung im Osten Taiwans gefunden, wasserdicht und intakt. (Foto oben!) Es stellte sich heraus, ja, man kann so etwas herausfinden, dass diese Kamera Lindsay Crumbley Scallan gehört, einer Frau aus dem US-Staat Georgia. Diese Dame hatte die Kamera während eines Tauchgangs verloren. Und jetzt kommt's: Das geschah vor sechs Jahren. Und es geschah vor der Küste Hawaiis. Die Kamera, die bereits von einigen Seetieren als neue Heimat okkupiert wurde, war also lächerliche 6000 Meilen (9600 km) durch den Pazifik getrudelt, offenbar im Wissen, dass Douglas Cheng sie da wohl von ihrer unendlichen Reise erlösen und empfangen würde und wohl im Wissen, dass sie dann endlich zurück nach Hause zu Lindsay Crumbley Scallan ins liebliche Georgia darf. Ja, manchmal liegt eine mysteriöse Schönheit im Wiederfinden. Doch hätten Sie eine Kamera für solch einen Racker gehalten?