Memorialkult im Fußball:Erstklassig, in alle Ewigkeit

Aufgehoben im Bekenntnis zum Lieblingsclub: Fußball ist für viele mehr als ein Sport - es ist eine sentimentale und nostalgische Angelegenheit. Eine Tagung in Irsee untersucht Totengedenken und Memorialkultur im Vereinsfußball.

Alexander Kissler

Keine Fankurve kommt ohne dieses Requisit aus: "Gegen den modernen Fußball" steht Wochenende für Wochenende auf unzähligen Fahnen in Deutschlands Profistadien. Das Moderne dient als Chiffre für alle Tendenzen, die dem Stehplatzdauerkarteninhaber suspekt sind. Modern nämlich sei die Neigung, aus dem Männersport ein Kommerzspektakel zu machen, eine Fernsehunterhaltung und ein Familienvergnügen.

Trauerfeier fuer Robert Enke

Das Bild wurde bei der Trauerfeier für den verstorbenen Nationaltorwart Robert Enke aufgenommen. Im Stadion von Hannover 96 gedachten rund 35.000 Trauergäste ihrem Idol. Für Fans ist das Ehrensache. Im Fußball hält man zu seiner Mannschaft.

(Foto: ddp)

Insofern ist ein nicht unerheblicher Teil der Fanszene, angeführt von den "Ultras", traditionalistisch gesinnt. Die aufwendigen Choreographien mit ihren Botschaften aus Farbe, Schrift, Symbol sind Liturgien des Widerstands.

Vor diesem Hintergrund ist es kaum glaublich, dass nun in der Schwabenakademie Irsee tatsächlich "zum ersten Mal" überhaupt "die intergenerationale Integrationskraft des Vereinsfußballs anhand seiner Bezüge zur Memorial- und Sepulkralkultur" dargestellt worden sein soll.

Im Rückgriff auf einzelne Siege

Denn woran, wenn nicht am Umgang mit seinen Toten, muss sich jeder Traditionalismus bewähren? Und wo, wenn nicht im vergegenwärtigenden Rückgriff auf einstige Siege und Niederlagen, hat das Erinnern seine Stätte?

Fußball ist ein Gewebe aus der Feier des Augenblicks, des dramatisch bis zum Torschrei verdichteten Moments, und der langen Dauer namens Clubgeschichte. Das Schlüsselwort für diesen Zusammenhang sprach Tagungsleiter und Referent Markwart Herzog (Kaufbeuren) aus. Bekenntnisgemeinschaft nannte Herzog die Anhängerschaft der Vereine.

Wer also je sich diesen oder jenen Verein erkor, in ihn, wie es in schönster Selbstzuschreibung heißt, "hineingeboren wurde", der legt mit jedem Stadionbesuch, jeder Anfeuerung ein Bekenntnis ab - und der stellt sich in die lange Reihe derer, die vor ihm dasselbe taten. Als Glied einer Kette, die den eigenen Tod überdauert, begreift sich der Fan.

Die zahlreichen Anleihen an die religiöse Sprache erklären sich aus diesem Selbstverständnis. "Wer mit dem Adler fliegt, der auch den Tod besiegt", stand auf einem Spruchband der Fans zur Erinnerung an den 2008 verstorbenen Ehrenspielführer von Eintracht Frankfurt, Alfred Pfaff. Nach dem Ableben von Wilmar Gawrisch, eines Protagonisten der Fanszene, lautete 2003 die Erinnerungsbotschaft der Kurve "Flieg, alter Adler, hinaus in die Freiheit".

Matthias Thoma (Frankfurt am Main) belegte mit diesen und anderen Beispielen, wie rasant sich seit den neunziger Jahren ein historisches Bewusstsein der Fans ausbildete, bezeichnenderweise "in Zeiten der Vermarktung und des Kommerzes".

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum im Fußball die Botschaften zwar knapp, ihre symbolischen Gehalte aber gewaltig sind.

"Auf ewig vereint"

Eintracht Frankfurt selbst gedenkt zwar mit Ehrenmal, Totenmal, Gedenktafel, Trauerflor und Traueranzeigen in den Vereinspublikationen herausragender Mitgliederpersönlichkeiten, hat die Erinnerung aber nicht derart weit individualisiert wie der HSV. In Hamburg wurde, wie Markwart Herzog darlegte, vor vier Jahren das "HSV-Grabfeld" eröffnet.

Die dritte Kathedrale

Auf dem Hauptfriedhof in Hamburg-Altona versprechen drei lizenzierten Bestattungsunternehmen, "Auf ewig vereint" zu sein, "in alle Ewigkeit: erstklassig". Wegen Konflikten mit dem Grünflächenamt fanden erst zweimal Beerdigungen in den HSV-Farben statt, mit passend designtem Sarg und entsprechenden Emblemen und Blumen.

In Großbritannien hält der Fußball, laut Herzog "eine im besten Sinne des Wortes sentimentale und nostalgische Angelegenheit", vielfältige Formen des Gedenkens parat. Die "commemorative bricks", kleine Gedenkziegel aus Terrakotta, zieren die Außenwände vieler Stadien. Für wenig Geld kann der Fan sich dem Vereinsgedächtnis einschreiben. Ein "Mosaik der Clubfamilie" entstehe so.

Knapp sind zwar die Botschaften, bei den Glasgow Rangers etwa "Raymond - simply the best" oder "Robert Cockburn 1919 - 1980", gewaltig aber deren symbolische Gehalte. Die Gegenwart werde an jener Stelle, an der sie triumphal oder traurig gefeiert wird, transzendiert, das Stadion mutiert zum Erinnerungsort. In Deutschland bewirbt der 1. FC Magdeburg unter dem Motto "Meißel deine Liebe in Stein" eine vergleichbare Aktion.

Diese die Zeit entgrenzende Dimension führte die Soziologin Anne Eyre (Liverpool) weiter aus. Zur "dritten Kathedrale" neben der anglikanischen und der römisch-katholischen Bischofskirche sei das Stadion des FC Liverpool an der Anfield Road nach der Katastrophe von Hillsborough geworden, bei der 1989 zahlreiche Fans im Rahmen eines Spiels um dem FA-Cup starben. Trauer und Hoffnung fanden dort einen Anhaltspunkt.

"You'll never walk alone"

Die Fußballhymne "You'll never walk alone" erfüllte liturgische Zwecke und spendete Trost. John Williams (Leicester) analysierte mit gehöriger Sympathie den etwa zur selben Zeit beginnenden Einsatz der Fans gegen den "Tod des Spiels" und für den "Glauben unserer Väter" - den Glauben, dass mit den Gründergestalten im Wappen die "Disneysierung" des Fußballs, seine Verwandlung in ein globales Unterhaltungsprodukt, ausgehebelt werden könne. In Liverpool heißt die Widerstandsbewegung der Fans "Spirit of Shankly". Im Erinnern an den einstigen Vereinspräsidenten Bill Shankly zeigt man den Finanzinvestoren, mäßig erfolgreich, die rote Karte.

Wenn fast jedes Gedenken gegenwärtigen Zielen und politischen Strategien dient: Lässt sich dieser Konnex auch am Fall Robert Enke beobachten? Der ein Jahr zurückliegende Suizid des Torwarts von Hannover 96 setzte ein noch heute währendes Gedenken in Gang, das Hermann Queckenstedt vom Diözesanmuseum Osnabrück resümierte. Knapp 11000 Einträge umfassen mittlerweile die 45 Kondolenzbücher, von denen etwa fünf Prozent auf Personen mit ebenfalls depressiver Gemütslage deuten. Im Internet weist die entsprechende Site 138000 Einträge auf, allein 6000 kamen in der zurückliegenden Woche neu hinzu.

Die meisten Bekundungen seien "Ausdruck individueller Ohnmacht", die sich nicht selten in christliche Metaphorik kleiden. "Der Tod trennt, der Tod vereint", war im ersten Spiel nach Enkes Tod in der Kurve des damaligen Gegners Schalke 04 zu lesen - die Konkurrenz ruhte im Angesicht des Abschieds. Hingegen, so Queckenstedt, gab es früh "die Tendenz, das Gedenken zu politisieren", Ursprünglich etwa sei geplant gewesen, bei der Trauerfeier im Stadion nur den Präsidenten von Hannover 96 und einen Geistlichen sprechen zu lassen. Als das Fernsehen dann eine Live-Übertragung annoncierte, wurden Politiker hellhörig. Oberbürgermeister, Ministerpräsident und mancher Berufskollege beteiligten sich an der Formierung des öffentlichen Gedächtnisses.

Nicht einfach ist es demnach, auf dem Feld der Erinnerungspolitik den vom Aachener Sportwissenschaftler Sven Güldenpfennig jetzt emphatisch eingeklagten "Eigenwert des Sportes" zu schützen. Der streitbare Gelehrte gab den Advocatus diaboli und kritisierte, die "sozialen und quasipolitischen Identifikationsbedürfnisse der Anhänger" solle man nicht überbetonen. Fußball, keine Bekenntnisgemeinschaft demnach, rechne den performativen Künsten zu und sei im Feuilleton besser aufgehoben als im Sportteil. Wohlan, ein Anfang wäre denn nach so viel novembrigen Enden gemacht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: