Süddeutsche Zeitung

Verfahren gegen "Memorial":Diffamierungen und Randale

Russland geht gegen "Memorial" vor, die bekannteste Menschenrechtsorganisation des Landes. An deren Buchmessenstand in Moskau trifft man auf Pessimismus und Entschlossenheit.

Von Sonja Zekri

Der Stand der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial auf der Moskauer Non-Fiction-Buchmesse ist gut besucht, ach was, er ist umlagert. Das Schicksal von Memorial hängt am seidenen Faden. Gerichtsverfahren könnten das Ende der international hochangesehenen Organisation bedeuten. Der Staatsanwalt hat die Auflösung beantragt. Der Auftritt von Memorial im Gostinny Dwor, im Handelshof am Roten Platz, ist die Flucht in die Offensive.

Und die Resonanz ist erstaunlich. Besucher, vor allem junge Leserinnen und Leser, drängen sich um Bücher zur stalinistischen Repression, Bildbände mit Zeichnungen aus dem Gulag, Brettspiele zur russischen Geschichte. Einige zeigen durchaus Sinn für die bizarren Seiten der juristischen Angriffe. Auf einem Schild über dem Stand steht neben einem kleinen "Memorial" in sehr großen Buchstaben die Bezeichnung "Russische juristische Person, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt". Die Selbstbezichtigung ist eine Auflage des Gerichts. "Das ist aber ein seltsamer Name", spottet ein junger Mann.

Die große Unterstützung, gerade auch in Russland, habe sie alle überrascht, sagt Irina Scherbakowa, Memorial-Gründungsmitglied, Historikerin und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes: "Ich glaube trotzdem nicht, dass wir das überstehen." Zwei Verfahren laufen gegen Memorial: Der Dachorganisation "Memorial International" wird vorgeworfen, gegen die Auflagen als "Ausländischer Agent" verstoßen zu haben. Nicht immer und nicht überall habe die Organisation ihren "Status" kenntlich gemacht. Vor zwei Jahren hätten Polizisten auf der Buchmesse jeden Band durchgeblättert auf der Suche nach dem Stempel.

Die Verfahren sind der Höhepunkt jahrelanger Angriffe in den staatlichen Medien

Die Vorwürfe gegen die Abteilung für Menschenrechte wiegen schwerer. Sie soll "extremistische und terroristische" Gruppierungen unterstützt haben. Das Menschenrechtszentrum setzt sich für politische Gefangene ein, für die Rechte ethnischer Minderheiten, manchmal auch für Schwule und Lesben - als wäre bereits die Verteidigung eines Angeklagten kriminell.

Die Verfahren sind der Höhepunkt jahrelanger Angriffe und Diffamierungen in den staatlichen Medien, im Internet, bei einer Filmvorführung zuletzt auch ganz physisch. Als Memorial den Film "Red Secrets - Im Fadenkreuz Stalins" von Agnieszka Holland über den Holodomor in der Ukraine zeigte, stürmten Maskierte den Saal und randalierten.

Mitte Dezember werden die beiden Verfahren gegen "Memorial" fortgeführt, aber Scherbakowa hält es für möglich, dass dies nicht das Ende ist: "Es kann gut sein, dass sie vertagen und vertagen, bis die Wellen der Empörung sich gelegt haben. Und dann erst urteilen sie." Ganz gleich, wie es kommt, aufgeben werden sie nicht, verspricht sie.

Die komplexe Struktur der Organisation könne am Ende nützlich sein und manches zu retten. Memorial Moskau, ein Zweig, der bislang kaum mehr als eine Struktur gewesen sei und noch nicht zum "Ausländischen Agenten" erklärt wurde, könnte dabei helfen. Das Archiv und die Bibliothek seien bereits an Memorial Moskau überschrieben worden. Den Mitarbeitern, die schlimmstenfalls zu Helfern von "Terror-Organisationen" erklärt werden, hilft das nicht. "Man trifft die Entscheidung zur Ausreise immer zu spät", sagt Scherbakowa düster.

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