"Memoria" im Kino:Big Bang Theory 

"Memoria" im Kino: Tilda Swinton in "Memoria".

Tilda Swinton in "Memoria".

(Foto: Sandro Kopp/dpa)

Was, wenn dieses merkwürdige Geräusch im Kopf nicht mehr verschwindet? Tilda Swinton im Kinofilm "Memoria".

Von Fritz Göttler

Über fünfzig Mal, das Branchenblatt Variety hat mitgezählt, ist das ominöse "Bang" in diesem Film zu hören, das Jessica täglich aufs Neue überfällt. Zu Beginn wird sie davon aus dem Schlaf geholt, sie geht durch das nächtliche Zimmer und schaut zum Fenster hinaus. Draußen der Parkplatz mit einem Dutzend Autos, deren Scheinwerfer fangen verschreckt an zu blinken, die Sicherheitssysteme tröten, nur langsam kehrt wieder Ruhe ein. Niemand sonst hört Jessicas Bang, nur wir Zuschauer, ein Privileg, eine Verunsicherung, ein Stigma. Und: pure Suspense.

Tilda Swinton ist Jessica, sie kennt den Regisseur Apichatpong Weerasethakul seit vielen Jahren. "Memoria" ist dessen erster Film, den er nicht in seiner Heimat Thailand drehte, sondern in Kolumbien, in Bogotá. Ich hoffe, sagt Swinton, demnächst wird es einen schottischen Weerasethakul geben. Der Regisseur hat für "Memoria" 2021 in Cannes den Preis der Jury gekriegt - für "Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" hatte es 2010 die Goldene Palme gegeben.

Die Heldin leidet am Exploding Head Syndrome, das der Regisseur auch selbst erlebt hat

Jessicas Bang ist ein Geräusch aus dem Nirgendwo, ohne Ursprung, es verweist auf unsere unsicheren Versuche, ins Geheimnis der Filme von Apichatpong Weerasethakul zu dringen, die synthetisch sind und ganz natürlich zugleich. Er hat selbst die Verstörung durch solche hartnäckigen Bangs erlebt, es handelt sich dabei um das Exploding Head Syndrome (EHS), das eher lästig ist als schmerzlich krankhaft. Es sind rekurrierende Geräusche, im Innern des Kopfes, meistens kommen sie an dem Punkt zwischen Schlaf und Erwachen, wenn das Bewusstsein am wenigsten geschützt ist.

Jessica will etwas tun gegen das mysteriöse Phänomen und sucht einen Tontechniker auf in seinem Studio, den jungen Hernán, der ihr den Ton künstlich nachbaut mit seiner Apparatur, nach ihren Beschreibungen. "Das ist wie eine enorme Kugel, aus Zement", erklärt sie ihm, "die in einen Metallschacht fällt, der von Meerwasser umgeben ist." Wahrnehmung als eine Form der Poesie. Wie groß die Zementkugel sei? Jessica nimmt die Hände auseinander, um das Bang zu akzentuieren, das aus ihrem Mund kommt. "Danach schrumpft es ..." Sie holt die fremden spanischen Worte mühsam aus sich hervor, manchmal muss sie ins Englische wechseln. Eine Poesie, für die der ganze Körper zusammenspielt. Hernán führt ihr diverse Klangvarianten vor, sie lauscht. Mehr tierra, verlangt sie, "es muss erdiger klingen, wie ein Grollen aus dem Kern der Erde". Nun zeigt er ihr auf seinem Computer eine Bibliothek mit filmischen Toneffekten, alle exakt benannt und sehr absurd: "Körper trifft Bettdecke trifft Schlagholz."

"Memoria" im Kino: Lässt sich das geheimnisvolle Geräusch in ihrem Kopf am Mischpult rekonstruieren? Tilda Swinton und Juan Pablo Urrego in "Memoria".

Lässt sich das geheimnisvolle Geräusch in ihrem Kopf am Mischpult rekonstruieren? Tilda Swinton und Juan Pablo Urrego in "Memoria".

(Foto: dpa)

Die Imagination ist absolut, das ist eine Parole des Kinos von Anfang an. Erst in der Beschreibung kommt der Ton zu sich, insofern erinnert der Besuch im Tonstudio an die Praxis der Psychoanalyse, wo erst in assoziativ tastender Beschreibung die Träume und ihre Inhalte Gestalt annehmen. Auch die psychoanalytische Technik hat viel mit Poesie zu tun, die Sprache dient nicht der Absicht, etwas genau zu benennen.

Bogotá ist eine Stadt voller Leben, die meisten Einstellungen hier sind voller Passanten, die quer durchs Bild eilen. Die Einstellungen sind inspiriert, sagt Apichatpong Weerasethakul, vom kolumbianischen Maler Ever Astudillo, wie er Mensch und Raum zusammenfügt. Jessica besucht eine Ausstellung mit seinen Bildern.

Wie immer bei Apichatpong Weerasethakul schlägt der Film nach einer Stunde eine völlig andere Richtung ein. Eine Wissenschaftlerin, gespielt von Jeanne Balibar, hat Jessica von 6000 Jahre alten menschlichen Überresten erzählt, die bei einem Tunnelprojekt durch die Anden gefunden wurden. Jessica fährt also aufs Land, und an einem Fluss begegnet sie einem Mann, der ebenfalls den Namen Hernán trägt und Fische abschuppt. Ich kann nicht vergessen, sagt er, mein Gedächtnis ist übervoll, daher schaut er nichts mehr an, keine Filme, kein Fernsehen. Nicht mal zu träumen traut er sich, wenn er schläft, liegt er da wie ein Toter. Die Zeit bleibt stehen.

Vielleicht mein buddhistischster Film, meint Weerasethakul, mit seinem Nebeneinander von Raum und Leere. Es geht um Subjektivität, in ihrer subtilsten Form, ohne dass einer Subjekt wird. Die Erinnerungen springen über von einem zum anderen. Jessica Holland, das ist der Name der jungen Frau in dem fantastischen Phantomfilm "I Walked with a Zombie" von Jacques Tourneur - der Regisseur ist enorm wichtig für Weerasethakul. Diese Jessica wird auf einer Karibikinsel vom Sound der Voodootrommeln angezogen, sie verfällt dem Kult. "Ich glaube, dass meine Jessica, wie die Tourneurs, nicht wirklich existiert, sie hat eine surreale Dimension, die es nur durchs Kino geben kann ... Sie ist das Kino."

Memoria, 2021 - Regie, Buch: Apichatpong Weerasethakul. Kamera: Sayombhu Mukdeeprom. Schnitt: Lee Chatametikool. Musik: César López. Mit: Tilda Swinton, Agnes Brekke. Port au Prince, 136 Minuten. Kinostart am 5.5.2022.

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