Memoiren:Flucht durchs Paradies

Die bewegenden Erinnerungen der von den Nazis vertriebenen jüdischen Buchhändlerin aus Berlin, Françoise Frenkel.

Von Joseph Hanimann

In einer Dezembernacht 1942 wird eine Frau, polnische Jüdin, in Frankreich ein paar Meter vor der Schweizer Grenze von einem Zöllner gefasst und den Gendarmen übergeben. Am anderen Morgen besteigt sie den Bus und wird zusammen mit anderen festgenommenen Flüchtlingen ins Gefängnis überführt. "Nach mehrstündiger Fahrt durch die im Winterkleid überwältigend schönen Berge", schrieb sie danach, sei der Bus schließlich am Gefängnistor von Annecy angekommen.

Die Diskrepanz zwischen den zauberhaften Orten, die diese Frau auf der Flucht vor den Nazis durchlief, Paris, Avignon, Nizza, Grenoble, und der ständigen Not, in der sie sich befand, durchzieht ihr ganzes Buch. Insofern ist es ein einzigartiges Zeugnis jener Jahre. Hier spricht ein von Grund auf positiv eingestellter Mensch, der selbst in der Verzweiflung nicht anders kann, als die sich bietenden Momente der Freude zu erhaschen, und der im selben Satz Begeisterungsfähigkeit und Niedergeschlagenheit auszudrücken vermag. Und es handelt sich dabei nicht um Literatur, sondern um einen Erlebnisbericht.

Kurfurstendamm

Das Kaufhaus Grünfeld am Ku'damm um 1930, in der Nähe lag Frenkels "Maison du Livre".

(Foto: General Photographic Agency/Getty Images)

Die 1889 in der Gegend von Łódź geborene Françoise Frenkel war eine Büchernärrin und seit ihren Studienjahren in Paris sehr frankophil. 1921 gründete sie in Berlin zusammen mit ihrem Mann die erste französische Buchhandlung in der Stadt, das "Maison du Livre". Nach 1933 wurde die Situation immer schwieriger. Die Polizei erschien unter verschiedenen Vorwänden, beschlagnahmte Bücher, bestellte die Inhaberin zur Vernehmung ein. Im Sommer 1939 rang sie sich schweren Herzens zur Schließung des Ladens durch und ging nach Paris, das sie neun Monate später nach Ankunft der Deutschen ebenfalls verlassen musste.

Die Autorin war vergessen, bis ihr Buch auf einem Flohmarkt zufällig wieder auftauchte

Zwei Jahre lebte Françoise Frenkel in Nizza und zog von einem Versteck ins andere, um den Razzien der Polizei von Vichy-Frankreich zu entgehen. Nach der Besetzung auch der französischen Südzone durch die Deutschen sah sie als einzigen Ausweg den Fluchtversuch in die Schweiz, der nach abenteuerlichen Zwischenfällen schließlich gelang. Im September 1945 erschien bei einem Genfer Verlag Françoise Frenkels Erinnerungsbuch jener bewegten Jahre. Buch wie Autorin gerieten jedoch allmählich in Vergessenheit. Fast nichts ist bekannt über ihr späteres Leben bis zu ihrem Tod 1975 in Nizza. Beim Stöbern auf einem Trödelmarkt tauchte ihr Buch unlängst wieder auf und kam in die richtigen Hände. Im letzten Jahr erschien es neu bei Gallimard und weckt breites Interesse.

Memoiren: Françoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten. Mit einem Vorwort von Patrick Modiano. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2016. 288 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.

Françoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten. Mit einem Vorwort von Patrick Modiano. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2016. 288 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.

Zum Eindrücklichsten gehöre, dass es von einer uns Fremdgebliebenen stamme, schreibt Patrick Modiano in seinem Vorwort: Er möchte ihr Gesicht und die Wechselfälle ihres Lebens auch lieber nicht kennen, so bleibe ihr Buch "auf immer der Brief einer Unbekannten, postlagernd, seit einer Ewigkeit vergessen", wie eine Stimme, die uns aus dem Halbdunkel eine Episode ihres Lebens erzählt und sich dann wieder in Geheimnisse auflöst.

Ein Hotel in Nizza wurde für die Verfolgte vorübergehend zu einer wahren Arche Noah

Nicht wenige Aufzeichnungen über jüdische Schicksale jener Jahre im Versteck oder auf der Flucht sind in letzter Zeit erschienen. Auffallend ist an diesem Bericht jedoch die besondere Aufmerksamkeit für spontane Hilfeleistungen und kleine Gesten von Unbekannten inmitten von Verbrechen und Leiden. Den "Menschen guten Willens" ist das Buch denn auch gewidmet. Das hätte erhaben, schwärmerisch oder rührselig ausfallen können. Durch Frenkels Art zu erzählen wirkt es aber fesselnd, bewegend und aufschlussreich.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Hanser Verlag hier zur Verfügung.

Die Autorin hält sich nicht mit langen Beschreibungen ihrer Not auf, sondern liebt Sprünge und Stimmungswechsel, hat einen eigenen, diskreten Humor und eine sichere Menschenkenntnis. Nichts ist literarisch gespreizt, vielmehr werden die Ereignisse frei heraus erzählt, manchmal mit kurzen Einschüben allgemeiner Betrachtungen. Schon die in Berlin sich ausbreitende nationalsozialistische Stimmung mit dem immer ungehemmteren Singen und Grölen der Braunhemden nachts in den Hinterhöfen unter den Fenstern der Bürger wird lebendig spürbar, wie auch das verlegene, beschämte Wegblicken der Menschen, von denen schon kaum jemand mehr offen protestierte.

Ihrer Frankreichliebe mag es geschuldet sein, dass die Autorin dieses Land mit seinem trotz Entbehrung und Unterdrückung anhaltenden Frohsinn, Gleichmut und Spottgeist manchmal etwas verklärt. Doch entgeht ihr nichts von der Schäbigkeit der beflissenen Kollaborateure. Und sie erfährt auch, wie schnell das 1940 von einem Mitarbeiter des Premierministers Daladier unterzeichnete Empfehlungsschreiben, das ihr aufgrund ihrer geleisteten Dienste für Frankreich "alle Freiheiten und Vergünstigungen" im Land zusichert, nach dem Regimewechsel nichts mehr wert ist. Entscheidend ist für sie aber immer wieder die spontane Hilfsbereitschaft vieler Leute, vorab von Monsieur und Madame Marius, Inhaber eines Friseursalons in Nizza, die der Verfolgten unter großem Risiko für sich selbst Unterschlupf gewähren und ihr sofort im Hinterzimmer eine Matratze auf den Boden legen. Das Hotel La Roseraie in Nizza, für die Autorin bis zur systematischen Deportation der Juden im Sommer 1942 eine wahre Arche Noah, wird mit seinem auf jeder Etage pulsierenden Leben geschildert und erinnert an Szenen aus Anna Seghers' Roman "Transit" oder an "Hotel Savoy" von Joseph Roth.

Seltsam aktuell wirken Stellen des Buchs, an denen vom Flüchtlingsalltag die Rede ist. Eine von Frenkels letzten Gastgeberinnen, Madame Lucienne, vereint in ihrer Person alle Widersprüche einer schweigenden Mehrheit. Sie ist eine bedingungslose Bewunderin des Marschalls Pétain, Antisemitin, empfindet der verfolgten Polin gegenüber jedoch Mitleid und Sympathie und schickt die Bedrängte zuletzt dann doch wieder weg aus Sorge um ihr eigenes Schicksal. Damit kam für die Fliehende die Stunde der Schleuser zur Überquerung der Alpen - "ein Schleuser, der zählt was in unserer heutigen Zeit!". Sie bekam es mit miesen Gestalten zu tun wie dem versoffenen Julot, der das Geld kassierte und bei der ersten Gefahr verschwand, aber auch mit Ehrenmännern, die wirkliche Risiken auf sich nahmen.

Nach zwei missglückten Versuchen, die sie in Haft brachten und mit weiteren ergreifenden Geschichten konfrontierten, überschritt Françoise Frenkel im Juni 1943 bei Genf den Stacheldrahtzaun und war in der Schweiz. Dort begann sie sofort mit der Niederschrift ihrer Erinnerung, die mit ihren Lebensdetails, Porträts und Zeitstimmungen uns in den Bann zieht. Sie liest sich wie eine Flaschenpost aus lang vergangenen Zeiten und zugleich fast wie von heute, minutiös übersetzt und mit ausführlich erklärendem Dossier versehen.

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