Süddeutsche Zeitung

Melodie-Mathematikerin Sia:Alle sieben Sekunden ein Höhepunkt

Das neue Album "This Is Acting" der australischen Popsängerin Sia müsste eigentlich sofort sämtliche Charts stürmen. Denn es ist pures Hitmaschinen-Songwriting.

Von Jan Kedves

Nein, die hundertprozentige Hitgarantie gibt es immer noch nicht. Aber es wird konsequenter denn je daran gearbeitet. Das ist ja immer der große Traum der Musikindustrie: die Produktion von Popsingles so zu perfektionieren, dass sie verlässlich weltweit an der Spitze der Charts landen.

Und weil sich solche Unternehmungen schnell generalstabsmäßig auswachsen, sind an der Entstehung einer Popsingle heute viel mehr Menschen beteiligt als bloß ein Sänger oder eine Sängerin, ein Songwriter, ein Produzent für die technischen Feinheiten, und vielleicht noch ein strenger Manager, der lobt oder sich Änderungen wünscht.

Hits entstehen heute in einem viel arbeitsteiligeren Prozess, unter Beteiligung von bis zu fünfmal so vielen hoch spezialisierten Zulieferern.

Da ist zum Beispiel der Beat-Produzent, der nichts anderes macht, als an dem einen perfekten Hi-Hat-Sound zu feilen, während ein anderer Beat-Fachmann die ideal pumpende Bassdrum programmiert.

Da ist der Komponist, der nur darauf spezialisiert ist, raffinierte Bridges auszutüfteln, also jenen Teil eines Songs, der meist im hinteren Drittel - nach den Strophe-Refrain-Wechseln - noch mal für Abwechslung sorgt. Oder: Heerscharen von Songwritern probieren verschiedene Kombinationen von Melodiefragmenten und Silben aus. Letztere Menschen heißen heute übrigens nicht mehr Songwriter, sondern "Topliner". Aber dazu gleich mehr.

Oft arg banale Texte

Zunächst einmal ist vor Kurzem ein Buch erschienen, das auf sehr anschauliche und informierte Weise erklärt, wie heute Highscore-Pop entsteht: "The Song Machine".

Der Autor John Seabrook eröffnet seine Untersuchung (erschienen im Verlag W. W. Norton) mit der Anekdote, dass er irgendwann die Musik, die sein Sohn als Teenager hörte, nicht mehr verstand. Ein unter Eltern bekanntes Phänomen. Doch statt zu rufen: "Dreh den Mist leiser!", hörte Seabrook, selbst zu Zeiten der Beatles groß geworden und Pink Floyd-Fan, genauer hin: Flo Rida, Katy Perry, Taylor Swift. Die Musik, die in den letzten Jahren die Charts dominiert, verbindet die Rhythmik von schwarzem Funk und R'n'B mit der Melodik europäischer Pop- und Schlagermusik.

Es ist Musik mit oft arg banalen Texten, was dem Erfolg nicht schadet. Und es ist Musik, die meist schon nach wenigen Sekunden zum ersten Höhepunkt kommt, wenn sie nicht ohnehin mit dem Refrain ins Haus fällt. Wie konnte es so weit kommen, fragte sich Seabrook und ging auf Recherche. Fündig wurde er in Schweden.

Wahnwitzig eingängiger Pop aus Schweden

In Stockholm, so Seabrook, sei um 1990 herum jenes Prinzip entwickelt worden, nach dem bis heute große Hits entstehen. Genauer: iIn den Cheiron-Studios des DJs und Musikproduzenten Dag Krister Volle alias Denniz Pop.

In den frühen Neunzigerjahren hatte Volle maßgeblichen Anteil am wahnwitzig eingängigen Pop der Göteborger Band Ace of Base ("All That She Wants" dürfte ihr berühmtester Song sein). Denniz Pop starb 1998 an Krebs, seitdem führt sein talentiertester Schüler Max Martin sein Erbe weiter.

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Martin war ursprünglich Sänger einer schwedischen Metalband, inzwischen gehen 20 Nummer-1-Hits in den USA auf sein Konto. Damit rangiert er auf Platz drei der Liste der erfolgreichsten Songwriter aller Zeiten (vor ihm stehen nur noch Paul McCartney und John Lennon) und auf Platz zwei der Liste der erfolgreichsten Pop-Produzenten (hinter George Martin).

Eine von Max Martins Spezialitäten, die er unter anderem in Britney Spears' "(Hit Me Baby) One More Time" (1999) und Taylor Swifts "Bad Blood" (2015) anwandte, nennt er "Melodic Math": Melodiemathematik. Womit gemeint ist, dass ein Song textlich nicht unbedingt Sinn ergeben muss, solange die Silben und Worte nur perfekt und ruckelfrei über die Melodiebögen gleiten.

Vermutlich ist es sogar eher ein Vorteil, wenn solche Songtexte von Menschen gereimt werden, deren Muttersprache nicht Englisch ist. Tatsächlich erklärt Seabrook den Erfolg der Popmusik aus Stockholm unter anderem damit, dass Schweden zwar einerseits ein traditionell anglophiles Land sei (was sich unter anderem in Kino und Fernsehen zeigt, für das englischsprachige Filme nicht synchronisiert werden), dass die Schweden andererseits aber doch ein eher globales Englisch sprechen - ein Zweitsprachen-Englisch, dem manche semantische Feinheit fehlt, das dafür aber wirklich überall verstanden wird.

So war es auch schon in den Siebzigern bei Abba, deren Musik Seabrook als Vorläufer des heutigen Hitmaschinen-Pops sieht.

Seabrook tut in seinem Buch nicht so, als wäre die Hitmaschine etwas völlig Neues. Er erinnert auch daran, dass im sagenumwobenen Brill Building in New York in den Fünfziger- und Sechzigerjahren schon legendäre Songwriting-Teams wie Carole King/Gerry Goffin oder Burt Bacharach/Hal David in ihren Arbeitszellen am Klavier saßen und sich eine Melodie nach der anderen ausdachten.

Doch das sei noch nach dem klassischen "Melody and Lyric"-Prinzip geschehen, das aus Folk und Country bekannt ist: Im Zentrum des Songwritings stehen Melodie und Text. Sounds und Beats sind zweitrangig.

Das Neue am heutigen Hitmaschinen-Songwriting ist, dass es den Prozess auf den Kopf stellt. Am Anfang eines Highscore-Pop-Songs steht inzwischen immer der Track - ein Instrumental, das von einem interessanten Sound ausgeht und dann Beats und Harmoniefolgen bekommt. Erst auf Grundlage dieses Tracks werden Melodien für Strophe und Refrain, sogenannte "Hooklines", addiert - weswegen das gesamte Verfahren auch "Track and Hook" heißt. Der Text ist später dann dazu da, um die Melodie zu unterstützen.

Wie in der Lebensmittel-Forschung

Auch hier gibt es natürlich historische Vorläufer: Jamaikanische Reggae-Produzenten begannen in den Sechzigerjahren damit, verschiedene Sänger ins Studio zu laden und sie alle über denselben fertigen "Riddim" - einen Track aus Beats, Basslinie und Harmonien - improvisieren zu lassen. Damit ebneten sie der heutigen Remix- und DJ-Kultur den Weg.

Die Hooklines allerdings, so Seabrook, werden heute geradezu mit der Akribie klinischer Laborstudien entwickelt, sie stellen "das akustische Äquivalent zu dem dar, was in der Snack-Industrie als 'bliss point' bezeichnet wird: Rhythmus, Sound, Melodie und Harmonien erzeugen zusammen einen ekstatischen Moment, den man mehr körperlich wahrnimmt als im Kopf."

Die Analogie zur Lebensmittelforschung passt gut. Einen Max-Martin-Song zu hören soll demnach ähnliche, quasi-orgasmische Gefühle auslösen, wie in einen Kartoffelchip zu beißen. Auch dessen "Glückspunkt" wurde ja sorgfältig von Psychophysikern designt, die auf Geschmackssteuerung spezialisiert sind und das Zusammenspiel von Salzgehalt, Aromastoffen, Gaumenbritzeln und Knackgeräusch genau ausgetüftelt haben.

Schuften in temporären Hit-Fabriken

So viel zur Hit-Industrie. Und wie es der Zufall will, erscheint mit "This Is Acting", dem neuen Album der in den USA lebenden australischen Sängerin Sia, nun ein Werk, das sich wie das akustische Beispielmaterial zu "The Song Machine" anhört.

Die Platte zum Buch. Sia Kate Isobelle Furler alias Sia hat schon Hits für Beyoncé, Rihanna, Christina Aguilera, Flo Rida, Ed Sheeran und andere Pop-Superstars geschrieben - oder vielmehr eben nicht ganze Songs, sondern Teile, die dann mit Teilen anderer Songwriter verschraubt wurden.

Wenn die Plattenfirma eines großen Popstars bei Sia anruft und sie in ein Songwriting-Camp einlädt, bucht man sie als "Toplinerin": also als jemanden, der einen Track nach den Prinzipien der Melodiemathematik zum Song ausbauen kann. Songwriting-Camps muss man sich als temporäre Hitfabriken vorstellen, in denen unzählige Spezialisten an Songskizzen für das neue Album eines Stars schuften. Meist in Abwesenheit dieses Stars.

Sia selbst hatte vor zwei Jahren mit "Chandelier" einen weltweiten Top-Ten-Hit. Während der Song in den ersten 30 Sekunden noch wie ein von Dancehall beeinflusster, cooler Rihanna-Song klingt (tatsächlich wurde er ursprünglich für Rihanna geschrieben), schwingt er sich danach recht unvermittelt zu einem hochdramatischen Arien-Refrain auf, der davon handelt, an einem Kronleuchter hängend durch die Luft zu schwingen und frei wie ein Vogel durch die Nacht zu fliegen.

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Die Metaphern geraten also ziemlich durcheinander, was aber - Melodiemathematik! - egal ist, solange es sich reimt und die Melodie dabei schön zur Geltung kommt.

Das Konzept von "This Is Acting", ihrem neuen Album: Es enthält nur Songs, die sie für andere Künstler geschrieben hat, die von diesen aber abgelehnt wurden.

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Die hochkomprimierte Powerballade "Bird Set Free" etwa, in der ihr Vibrato flattert, als habe sie gerade fünf Tassen Espresso hintereinander getrunken, entstand in Kooperation mit dem Produzenten Greg Kurstin, der vor allem für seine Arbeit mit Adele bekannt ist.

Gedacht war der Song für das Hollywood-Musical "Pitch Perfect 2", dessen Macher lehnten ihn jedoch ab. Sia bot ihn dann Rihanna an, aber die wollte ihn auch nicht. Dann sang Adele den Song ein, nahm ihn allerdings nicht mit auf ihr Hit-Album "25". Jetzt singt Sia ihn eben selbst.

Nur noch aneinandergehängte Refrains

Das Bemerkenswerte an den Songs von "This Is Acting" ist, dass sie unglaublich schnell aufdrehen, dass sie eigentlich nur noch aus aneinandergehängten Refrains zu bestehen scheinen. Was die These aus "The Song Machine" belegen würde, dass heute nach den Erkenntnissen der modernen Songwissenschaft spätestens alle sieben Sekunden etwas passieren muss, das die Aufmerksamkeit des Hörers fesselt.

Seabrook zitiert dazu den Hit-Produzenten Lukasz Gottwald alias Dr. Luke (der auch häufig mit Max Martin zusammenarbeitet): "Das Problem mit Songs aus den Achtzigerjahren ist, dass sie viel zu lange brauchen, um zum Refrain zu kommen."

Stimmlich ist Sia so flexibel, dass sie sich dem Star, für den sie einen Song jeweils gedacht hatte, gesanglich anverwandeln kann: In "Move Your Body" schmollt sie zunächst lasziv wie Lana Del Rey. Und wenn es dann weiter hinten nur noch "Ro-ha-ha-ha-Ro-ha-ha" heißt, klingt sie viel ruppiger, fast wie Lady Gaga. Die sang in ihrem Hit "Bad Romance" (2009) ja ganz ähnlich: "Ro-ma-Ro-ma-ma".

Ungewöhnlich tiefer Einblick

Tatsächlich sind Ah-ah-ah- und Uh-uh-uh-Refrains im Charts-Pop der vergangenen Jahre immer üblicher. Weil sie wirklich jeder versteht! Die Songs von "This Is Acting" müssten also sofort sämtliche Charts stürmen.

Aber falls ihnen das nicht gelingt, wäre das dann der Beweis dafür, dass sie von den Stars, für die sie gedacht waren, zu Recht abgelehnt wurden? Enthalten sie doch nicht genügend "bliss points"?

Für die Antwort auf diese Frage wird man die kommenden Wochen abwarten müssen. So oder so erlaubt "This Is Acting" einen ungewöhnlich tiefen Einblick in ebenjene Songmaschine, die Seabrooks Buch ihren Namen gab. Damit wäre man nun auch bestens gerüstet für die nächsten Wochen, in denen aller Voraussicht nach mit Rihannas "Anti" und Kanye Wests "Waves" zwei weitere Alben zeitgenössischer Popstars erscheinen, die jene Songs enthalten, die nicht abgelehnt wurden.

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SZ vom 28.01.2016/pak
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