Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf:Verwehungen des Glücks

Zwischen Vojvodina und der Schweiz: Mit "Tauben fliegen auf" beweist die Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji, dass es längst die Immigranten sind, die die deutschsprachige Literatur beleben. Ein Roman über die Zauberorte der Kindheit.

Karl-Markus Gauss

Die Vojvodina ist eine der halbvergessenen Regionen Europas. Von je her haben sich kleinere und größere Nationalitäten dieses Land zwischen Donau und Theiß geteilt. Fast drei Jahrhunderte gehörte die Vojvodina zur Habsburger Monarchie, nach dem Ersten Weltkrieg fiel sie zum Königreich Jugoslawien, nach dem Zweiten an die Föderative Volksrepublik Jugoslawien, die zu Zeiten Titos der Vojvodina eine weit reichende politische Autonomie gewährte, die im nationalserbischen Jahrzehnt unter Slobodan Milosevic gekappt war.

Schweizerin Abonji erhält Deutschen Buchpreis 2010

Vom Balkan in die Schweiz: Melinda Nadj Abonjis ist mit "Tauben fliegen auf" die diesjährige Gewinnerinen des Deutschen Buchpreises.

(Foto: dpa)

Bedeutende Schriftsteller hat dieses Europa im Kleinen hervorgebracht, Alexander Tisma und Danilo Kis, die serbisch-ungarischen Juden, die auch von dem Blutzoll berichteten, den die nationalsozialistische Okkupation des Balkans gerade hier gefordert hat; den donauschwäbischen Chronisten Johannes Weidenheim, der die Vojvodina als europäische Versuchsstation verstand, in der das Zusammenleben der Völker, Sprachen und Religionen mit ungewissem Ausgangerprobt wurde; die Ungarn Lászlo Végel und Otto Tolnai, die die ungarische Literatur vom Rande her mit kühnen Sprachkunstwerken bereicherten.

Ihnen hat sich nun die 1968 geborene Schweizerin Melinda Nadj Abonji zugesellt, die der verlorenen Heimat ihrer Eltern, dem Sehnsuchtsort ihrer Kindheit einen bezaubernden Roman gewidmet hat. In "Tauben fliegen auf" geht es um das Leben zwischen zwei Welten.

Die Familie Kocsis ist in den siebziger Jahren in den Westen gezogen. Den ehrgeizigen Vater hat der staatlich geförderte Schlendrian gestört, er wollte immer tüchtiger, produktiver sein, als es in der sozialistischen Gesellschaft angebracht war; die Mutter träumte von einem Leben in der sicheren Schweiz, wo es niemals Krieg geben würde, und vom Wohlstand, den sie sich mit zähem Fleiß zu erwerben trachtete.

Ildiko und Nomi, die Töchter, wurden noch in der Vojvodina geboren, verbrachten ihre ersten Jahre im pannonischen Dorf bei der Oma, der geradezu mythisch verklärten Mamika, und sind dann in die Schweiz nachgeholt worden, die sie ganz anders erlebten als ihre Eltern. Diese waren bemüht, als Zuwanderer die besseren Schweizer abzugeben, und bereit, jede Demütigung hinunterzuschlucken, was ihnen die Mädchen, als sie heranwuchsen, übel zu nehmen begannen.

"Immer noch alles gleich"

Titos Jugoslawien, von dem einige düstere Familienanekdoten erzählen, war allerdings kein volksdemokratisches Gefängnis. Darum konnte die Emigrantenfamilie auch alle Jahre nach Hause fahren, zu Hochzeiten, Begräbnissen oder um Urlaub zu machen, und zu jedem Besuch bei Mamika und all den Tanten, Onkeln, Cousins reisten die erfolgreichen Westler mit einem größeren Wagen an.

Im Sommer, "wenn die Ebene um ein Stockwerk gewachsen ist, Sonnenblumen-, Mais- und Weizenfelder, wo du nur hinblickst", schaukelten die Kocsis im Straßenkreuzer über die Dörfer, in denen "immer noch alles gleich" war, wie der Vater jedes Mal feststellte, denn "nichts hat sich verändert, gar nichts".

In diesem Urteil liegen Anerkennung und Verachtung nahe beisammen. Die pannonische Zeit scheint still zu stehen, der Fortschritt hat das Dorf nicht erreicht, auf dessen Straße die Gänse watscheln, die Maminka kocht auf wie ehedem, dass sich die Tische biegen und die Diätpolizisten bekreuzigen würden, die Verwandten strömen herbei, bestaunen das neue Auto, wollen hören, was sich draußen in der Welt alles verändert hat.

In der Schweiz herrscht eine andere Zeit, hier wird schnell und lang und schweigsam gearbeitet. Die Eltern erstehen zuerst eine Wäscherei, endlich ein eigenes Kaffeehaus. Eines Tages haben die Kocsis es geschafft, aus Fremden ohne Staatsbürgerschaft sind Schweizer mit verbrieften Rechten geworden. Heimisch fühlen sie sich deswegen noch lange nicht, und als Schweizer unter Schweizern werden wohl erst ihre Enkel gelten.

Die Atmosphäre der Kindheit

Anfänglich wird der Roman in der Wir-Form erzählt, die beiden Schwestern sind einander so nah, dass Ildiko, die ältere, von ihren Erfahrungen und Erinnerungen berichten kann, als wären sie stets auch die von Nomi gewesen. Für die beiden Mädchen ist das Dorf in der Vojvodina die Zauberwelt der Kindheit, hier regierte in ihrer gütigen Omnipräsenz die Maminka, hier waren die Gerüche stärker, die Farben kräftiger. Was ist Heimat, fragt sich Ildiko später, und weiß, dass Heimat für sie nichts anderes bedeutet als die "Atmosphäre der Kindheit".

Irgendwann zerbricht das schützende "Wir", und als die Vojvodina von einem neuen Krieg heimgesucht wird und Leute aus Bosnien und dem Kosovo in die Schweiz flüchten, erzählt Ildiko bereits konsequent in Ich-Form. Viel mehr als den Eltern ist ihr gegenwärtig, was die Familie mit der Emigration verloren hat und was die Schweiz ihr niemals wird bieten können. Aber sie ist keine Romantikern, die die Vojvodina zur Idylle umlügen und die Schweiz nur als feindselig kalte Geschäftswelt erleben würde.

Klug wie seine Erzählerin ist der Roman selbst, der auf innige Bilder eines verwehten Glücks scharfsichtig kritische Passagen folgen lässt. Melinda Nadj Abonji ist ein starker Beweis dafür, dass es längst die Immigranten sind, die der deutschsprachigen Literatur neue Themen, Schauplätze, Klänge gewinnen.

Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2010. 304 Seiten, 22 Euro.

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