"Mein ein, mein alles" in der SZ-Cinemathek:Vincent Cassel, König der Gaukler

Mein ein, mein alles

Er spielt Draufgänger und Könige in der Tradition des jungen französischen Kinos von Godard und Pialat, er steht für Anarchie und Bedenkenlosigkeit: Vincent Cassell als Georgio in "Mein ein, mein alles".

(Foto: Studiocanal)

In "Mein Ein, mein Alles" verkörpert der Franzose die pure Anarchie - und kontrastiert damit Emmanuelle Bercot, die ihm verfallen ist. Großes Schauspielerkino um eine Amour fou.

Filmkritik von Fritz Göttler

Das ist ein schriller Tagesbeginn für die junge schlaftrunkene Tony, in aller Früh steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür mit seinen Möbelpackern, will die Wohnung leerräumen. Die Möbel, die Tonys Mann Georgio angeschafft hat, aber auch die, die von Tony selbst mitgebracht wurden. Denn sie haftet mit als Ehefrau, und er hat ihr kein Wort gesagt von den Schwierigkeiten, die er gerade mit der Steuer hat. Es ist ein böser, ein verzweifelter, ein komischer Moment.

Einer der vielen Momente, an die Tony sich erinnert, als sie ihr Leben - in Rückblenden - Revue passieren lässt, ihre Karriere als Anwältin, ihre Passion für den draufgängerischen Georgio, die Heirat, seine Untreue, die Liebe zum gemeinsamen Sohn, die Trennung. Tony hatte sich bei einem Skiunfall das Bein schwer verletzt, nun hockt sie in einer Reha-Klinik im Süden und versucht, durch gymnastische Übungen und leichtes Schwimmen und durch Erinnerung, alles wieder in Bewegung zu bringen, physisch und psychisch.

Für ihn ist das Leben ein ständiges Auf und Ab, sie wünscht es möglichst ruhig

Die Pfändung und die geschäftlichen Komplikationen sieht der Restaurantbesitzer Georgio überhaupt nicht als Tragödie; das Leben ist für ihn ein ständiges Auf und Ab, oszillierend wie die Linien eines EKG. Tony hat eine andere Vorstellung, geradlinig möchte sie ihr Leben, möglichst ruhig und gleichmütig. Die Schocks, die Georgio ihr zumutet, kann sie nicht verkraften.

Vincent Cassel ist Georgio, und in vielen Kritiken - schon bei der Erstaufführung des Films im Wettbewerb des Festivals in Cannes im vorigen Jahr - wurde der als selbstsüchtig, dominant, egoistisch, machohaft, narzisstisch verurteilt. Cassel spielt seit vielen Jahren solche Typen, Draufgänger und Gangster, auch Herrscher oder Könige, und er spielt sie in der Tradition des jungen französischen Kinos von Godard und Pialat, Belmondo und Depardieu. Sie verkörpern die Jugend, jenseits von Gut und Böse, die Freiheit, die Anarchie, die Bedenkenlosigkeit, und all das lässt Cassell in seinem Georgio aufblitzen.

Das ist das subversive Geheimnis des Kinos, diese Fähigkeit, die aufdringliche Moral von Geschichten zu hinterfragen. Maïwenn, die Regisseurin von "Mein Ein, mein Alles", die selbst auch als Schauspielerin arbeitet, richtet ihren Film auf die Besessenheit von Vincent Cassel aus. Und kontrastiert sie mit dem völlig anderen Schauspielstil, den Emmanuelle Bercot als Tony entwickelt. Bercot hat selbst Filme als Regisseurin gemacht - "Madame empfiehlt sich" und "La tête haute" mit Catherine Deneuve -, sie spielt Tony ganz konzentriert, der Kamera immer eingedenk, und ist in Cannes als beste Schauspielerin ausgezeichnet worden. Dem leidenschaftlichen Vincent Cassel dagegen passiert es immer wieder, dass er Kamera und Crew vergisst, wenn er loslegt. "Er macht das ganz genial", sagt Maïwenn, "und wenn ich dann Cut sagte, murmelte er immer Aha, okay, und merkte plötzlich, wir machen einen Film."

Es gehören immer zwei zu einer Amour fou, auch wenn die Liebes-Verrücktheit ein Gefälle haben mag. Zu einer Faszination gehört immer auch einer, der sich faszinieren lässt. Der König, zu dem Tony sich Georgio hinstilisiert hat - "Mon roi" heißt der Film im Original -, ist zum Teil Autosuggestion. Die freche Lässigkeit, mit der Georgio die Möbel seiner Frau aufs Spiel setzt, hat eine Entsprechung in der flotten Bewegung, mit der er zu Beginn ihrer Liebe, nach einer fröhlichen ersten Nacht mit Freunden in einer Bar, Tony sein Handy zuwirft.

Georgio ist ein Gaukler, aber er lässt sich gern zuschauen, wie er in aller Offenheit seine verführerischen Tricks entwickelt. Auch Tony kriegt gegen Ende ein Gespür für solche Offenheit - wenn sie in der Klinik ein paar junge sportliche Leidensgenossen trifft und mit ihnen zu fröhlichen Exkursionen loszieht.

Mon roi, F 2015 - Regie: Maïwenn. Buch: Maïwenn, Etienne Comar. Kamera: Claire Mathon. Mit: Vincent Cassel, Emanuelle Bercot, Louis Garrel, Iseld le Besco, Chrystèle Saint-Louis Augustin, Patrick Raynal, Slim El Hedli. Studiocanal, 124 Minuten.

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