Süddeutsche Zeitung

"Videodrome" von David Cronenberg:Sex und Sadismus

David Cronenbergs "Videodrome" war 1983 kein kommerzieller Erfolg, aber auf unheimliche Weise prophetisch - und etwa in Deutschland bis vor kurzem sogar indiziert. Kein Wunder, dass er sich zu einem Kultfilm entwickelte.

Von Fritz Göttler

Es ist wahrscheinlich der berühmteste Schlitz der Kinogeschichte: wenn plötzlich der Bauch von Max Renn sich auftut und ihm zwischen die zwei Fleischlippen eine Videokassette geschoben wird und verschwindet oder eine Pistole. Der Mann wird programmiert, mörderisch am Ende, wie wenige Jahre zuvor Travis Bickle, der "Taxi Driver" von New York.

Max Renn wird gespielt von James Woods in David Cronenbergs "Videodrome", dem legendären, 1983 erschienenen Science-Fiction-Thriller aus der Zeit, als die große Vernetzung ganz allmählich begann. Der Film war kein Erfolg, aber auf unheimliche Weise prophetisch, viel dunkler und verstörender als die kleinen Horrorfilme, die Cronenberg bis dahin gemacht hatte. Kein Wunder, dass er sich zu einem Kultfilm entwickelte. In Deutschland war er bis vor kurzem indiziert.

Max Renn ist ein junger Fernsehproduzent in Toronto, wo auch David Cronenberg lebt und arbeitet. Er möchte das Fernsehen der Zukunft schaffen, das keine Geschichten mehr braucht, nur Impulse, Erregung, Emotion, einen Mix von Sadismus und Sex, Pornografie und Folter. Seine Botschaft ist das Medium selbst, so wie es der Medientheoretiker Marshall McLuhan propagiert hatte, der in Toronto lehrte und Ende der Siebziger omnipräsent war bei Studenten und Intellektuellen. McLuhan erscheint in "Videodrome" in der Figur des Professor O'Blivion, der nur noch auf Bildschirmen auftritt. Er führt eine Mission in der Stadt, die die Obdachlosen von den Straßen holt und mit TV-Bildern speist.

Max Renn gibt sich cool und meint auf der Höhe der Zeit zu sein, dabei ist er selbst in eine fiese Intrige verstrickt, in die Herausbildung der medialen Dominanz, wie sie dann das Internet vollendete. Er ist einer jener armseligen Wichtigtuer, die wenig vom Leben mitbekommen haben. Die aufregendsten Frauen bleiben unnahbar für Max, auch Nikki Brand, verkörpert von Popstar Debbie Harry, die dann ebenfalls in reiner Bildschirmpräsenz verschwindet. Videodrome handelt im Grunde von den bis heute unterschätzten physischen Auswüchsen, die Medien produzieren.

Die Gegenbewegung zum alles verschlingenden Schlitz ist eine Mattscheibe, die pulsiert, sich spannt und dehnt, bis sie die Form einer phallisch bedrohlichen Pistole hat. Die wahren Helden des Film sind eigentlich der Maskenbildner Rick Baker und sein Team, die Tag Nacht besessen an den Spezialeffekten des Films werkelten, ohne Computer. Der Fernseher, dem sich Max Renn gegenübersieht, lebt, die Kassette in seiner Hand pulsiert blutrot wie eine Scheibe Fleisch.

"Ich befinde mich 2500 Meilen entfernt von Hollywood", sagte Cronenberg einmal, "sehe mich, wörtlich und im übertragenen Sinn, zwischen Hollywood und Europa, was mein Kino angeht. Als Kanadier stehe ich außerhalb des Mainstreams von Amerika, das erlaubt einem, wie McLuhan sagte, Wahrnehmungen, die man ansonsten nicht haben könnte. Ein Fisch, sagt man, weiß nicht, was Wasser ist. Man muss draußen sein, um zu wissen, was Wasser ist." Die Künstler waren für McLuhan immer sensibler und schneller als die Wissenschaftler, wenn es darum ging, die Veränderung der Umwelt wahrzunehmen, sie schnüffeln herum und schon ist für sie die Zukunft gegenwärtig.

Toronto ist in "Videodrome" eine düstere Stadt, ihre spätbürgerlichen Fassaden stehen in brutalem Kontrast zur Heilserwartung des New Flash, die in ihr geschürt wird. Auch in Cronenbergs "Dead Ringers" ("Die Unzertrennlichen"), der ebenfalls und mit reichlich Bonusmaterial neu erscheint, ist Toronto eine saturierte Stadt, für die zwei Brüder Beverly und Elliott, Gynäkologen und preisgekrönte Wissenschaftler, eineiige Zwillinge, beide gespielt von Jeremy Irons. Sie haben viel mehr Erfolg bei den Frauen als Max Renn, denn sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich und nutzen es perfide aus. Am liebsten operieren sie mit eigens gefertigten Instrumenten, die wie altes aztekisches Besteck geformt sind. Der Film erzählt die Geschichte einer herzzerreißenden, unmöglichen Liebe, sein letztes Bild ist eins der friedlichsten bei David Cronenberg, und im Kino überhaupt.

David Cronenbergs Videodrome und Die Unzertrennlichen sind neu erschienen bei Koch Media.

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SZ vom 24.09.2018
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