Süddeutsche Zeitung

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William Wyler zeigt im Film "Infam" ein Drama um zwei Schulleiterinnen, denen ein homosexuelles Verhältnis unterstellt wird.

Von Sofia Glasl

Es braucht nicht viel, um Hollywood zu schockieren. Das wird der amerikanische Regisseur William Wyler mehr als genau gewusst haben, als er sich Anfang der Sechzigerjahre dazu entschloss, das Theaterstück "Kinderstunde" von Lillian Hellman zu verfilmen. Wyler war da gerade auf der Höhe seiner Karriere angelangt und hatte 1960 seinen dritten Regie-Oscar für das Monumentalepos "Ben Hur" gewonnen. Er konnte sich also aussuchen, mit wem er als nächstes arbeiten und welches Drehbuch er verfilmen wollte. Wyler nutzte diese Erfolgswelle für ein Herzensprojekt, das ihn beinahe 25 Jahre nicht losgelassen hatte. Denn er hatte "Kinderstunde" bereits 1936 unter dem Titel "Infame Lügen" für den Produzenten Samuel Goldwyn verfilmt, allerdings in einer stark zensierten Fassung.

Das Stück handelt von einer boshaften Rufmordaktion, ausgelöst von einer Internatsschülerin. Diese dichtet den beiden Leiterinnen der Schule eine homosexuelle Beziehung an und löst einen Skandal aus, der die beiden Frauen vor Gericht bringt und dazu zwingt, die Schule zu schließen. Nun fiel Wylers erste Verfilmung ziemlich genau auf den Zeitpunkt, an dem in Hollywood ein neues Regelwerk für Filmproduktionen eingeführt wurde, das sich zu einem rigorosen Zensurinstrument entwickelte. Zwischen 1934 und 1967 war der sogenannte Production Code verpflichtend, eine Produktionsverordnung, in der sehr detailliert festgelegt war, was auf der Leinwand gezeigt werden durfte und was nicht - darunter fiel auch die Darstellung und Andeutung von homosexueller Liebe. Auf dem Theater war das auch verboten, doch "Kinderstunde" war 1934 ein solch erfolgreicher Broadway-Hit, dass die Behörden nicht gegen die Produktion vorgingen. Hollywood war da strikter und Wyler musste die Handlung umschreiben - in der ersten Verfilmung wurde einer der Lehrerinnen ein Verhältnis mit dem Verlobten der anderen vorgeworfen.

Beinahe fünfzig Jahre später fühlt sich der Film nicht antiquiert an

Anfang der Sechzigerjahre wurde der Produktionscode gelockert und Wyler nahm einen neuen Anlauf, diesmal unter dem Titel "Infam", für United Artists. Mit Audrey Hepburn und Shirley MacLaine besetzte er zwei große Stars der Zeit als die Jugendfreundinnen Karen und Martha, die sich ihren Traum einer eigenen Schule verwirklichen. MacLaine hatte kurz zuvor mit "Das Appartment" einen Kassenschlager, mit Hepburn hatte Wyler schon 1953 bei "Ein Herz und eine Krone" zusammengearbeitet. Die Schauspielerin war damit zum Superstar avanciert und wurde für die Rolle mit dem Oscar ausgezeichnet. Als Karens Verlobten besetzte er James Garner - damals ein gewagter Schritt, da Garner sich gerade aus einem Knebelvertrag mit Warner Brothers herausgeklagt hatte und Wyler sich damit auch gegen diesen Produktionsgiganten stellte. Doch Wyler setzte sich durch und "Infam" wurde ein Erfolg.

Herausgekommen ist ein mitreißendes Drama, das die Funktionsweise von Bullying und Rufmord seziert und zeigt, welche Auswirkungen die absichtliche Umdeutung von einzelnen Worten und Blicken haben kann. Das ist auch heute noch erschreckend, weil die Mechanismen sich kaum verändert haben. Karen Balkin spielt die Schülerin Mary herrlich bockig und aufbrausend als unerträglichen Satansbraten, der das Spiel der Intrige in alle Richtungen zum eigenen Vorteil nutzt. Das Mädchen ist sich über die Folgen ihres Handelns nicht im Klaren, kurze Schreckmomente machen das deutlich, und doch ist die Kaltschnäuzigkeit bestürzend, mit der sie ihre Farce trotzdem durchzieht.

Der Produktionskodex ist trotz der Lockerungen natürlich auch an diesem Film nicht spurlos vorbeigegangen. Homosexualität durfte zwar mittlerweile gezeigt werden, sollte aber klar als sexuelle Perversion gekennzeichnet werden. Das Beklemmende an Wylers Film ist, dass er sich beinahe fünfzig Jahre nach seiner Premiere nicht wie ein antiquiertes Stück Hollywoodgeschichte anfühlt, sowohl was die Produktionsbedingungen als auch den moralinsauren Blick auf Minderheiten betrifft. Die Zielscheiben mögen in der Zwischenzeit andere sein und die Moralvorstellungen sich verschoben haben, doch ist ein solches Szenario auch heute noch denkbar.

Entsprechend bedrückend ist auch die Szene, in der Martha ihrer Freundin Karen gesteht, dass sie tatsächlich verliebt in sie ist: Sie ist selbst überrascht von dieser Erkenntnis, denn sie hatte ihre wahren Gefühle nicht nur nach außen verborgen, sondern auch innerlich verdrängt. Sie bezeichnet sich selbst als Monster und verliert jeglichen Lebensmut.

"Infam" ist bei Studiocanal auf DVD und Blu-ray erschienen.

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Quelle:
SZ vom 24.02.2020
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