Mediaplayer:Mordlust und Zärtlichkeit

Mediaplayer: Die australische Schauspielerin Mia Wasikowska in „Piercing“.

Die australische Schauspielerin Mia Wasikowska in „Piercing“.

(Foto: Busch Media)

"Piercing" von Nicolas Pesce ist ein Zweipersonen-Horrorstück, in dem nie klar wird, ob und wer wen töten wird.

Von Annett Scheffel

Er hat einen Plan. Und er hat einen Eispickel. Ebenjenen hält er in der ersten Szene über die Stirn seiner neugeborenen Tochter. Reed ist ein verkappter Psychopath. Ein Familienvater, der sich bei seiner Frau über Stress an der Arbeit beklagt, die Nächte in Wahrheit aber nur mit den akkuraten Bleistiftlinien in seinen technischen Zeichnungen zubringt, um sich von der Mordlust abzulenken.

Also begibt sich die gequälte Hauptfigur in Nicolas Pesces bitterbösem, psychosexuellem Horrorfilm, die wie Takashi Miikes genrebegründender Gewaltorgie "Audition" (1999) auf einem Roman des japanischen Schriftstellers Ryu Murakami basiert, auf einen erfundenen Business-Trip. In der Tasche sein kleines, rotes Notizbuch mit minutiösen Aufzeichnungen zu dem, was er sich vorgenommen hat: Er will sich eine Prostituierte ins Hotel bestellen und sie umbringen. "Der erste Schritt ist es, sie zu fesseln und zu knebeln. Das heißt am besten SM."

Was folgt, ist zunächst ein inszenierter Horror ohne Blut - die Trockenübung eines obszönen Gewaltverbrechens. In wahnhafter Pedanterie probt Reed den Ablauf in seinem Hotelzimmer immer wieder: erst Small Talk, dann betäuben und in der Badewanne zerstückeln. Zu dieser Pantomime - von Christopher Abbott mit grotesk ausdrucksloser Mine gespielt - hören wir die Geräusche von spritzendem Blut und abgetrennten Gliedmaßen. Dann aber betritt das Callgirl Jackie in einer Split-Screen-Sequenz zu schwungvoller Synthie-Lounge-Musik das Geschehen. Mia Wasikowska sieht toll aus in ihrem riesenhaften Pelzmantel, und ihre Figur ist mindestens genauso gestört wie Reed. So wird der Film bald zu einem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem nie ganz klar ist, wer hier der wahre Sadist ist - und wer der Masochist.

Nicolas Pesce hat ein Zweipersonen-Horrorstück gedreht, in dem Gewaltimpuls und sexuelle Anziehung bewusst nah beieinander liegen. Im Laufe des Films werden sich Jackie und Reed in einem munteren Psycho-Reigen gegenseitig narkotisieren, fesseln, verführen, verletzten. Beide werden fliehen können und es nicht tun - und deshalb bei aller Gewalt bald eher wie junge Liebende wirken.

Regisseur Pesce ist hier wieder der Stilist, als der er sich schon in seinem ersten Spielfilm "The Eyes of my Mother" gezeigt hat. Für seine Verfilmung von Murakamis seltsamer Annäherungsgeschichte hat er sich diesmal von den italienischen Giallo-Thrillern der Siebziger inspirieren lassen, grellen Horror-Streifen. Pesce macht sich neben den alten Giallo-Soundtracks auch die stilsichere Halbseidenartigkeit des Genres zu eigen: die artifiziellen Filmräume, die obsessive Verwendung der Farbe Rot und die widersprüchliche, teils halluzinative Wahrnehmung der Figuren. Pesces Film ist ein sadomasochistisches Kammerspiel, die Welt außerhalb der Handlungsräume ist bewusst unrealistisch: Mit dem Taxi fahren Jackie und Reed durch Stadtkulissen, die aussehen wie die Pappkarton-Modelle eines Architekten.

Auffällig ist aber vor allem, dass sich sein Film in einem entscheidenden Punkt vom Originaltext entfernt. Bei Murakami ist das ganze eine pechschwarze Satire über zwei gleichberechtigte Folterknechte. Pesce Film interessiert sich mehr für das Porträt eines nur äußerlich gefassten Mannes, für den der größte Horror ein Plan ist, bei dem trotz akribischer Vorbereitung alles schiefläuft. Reed wirkt manchmal fast clownesk bei seinen Versuchen das Geschehen wieder mit dem Ablauf zu synchronisieren, den er so säuberlich in sein rotes Buch notiert hat. Was dabei leider etwas aus dem Fokus gerät, ist Jackies Psychologie und Hintergrundgeschichte. Zum Glück hat Pesce mit Mia Wasikowska eine Darstellerin gefunden, die die Figur mit mehr Leben füllt, als das Drehbuch ihr zugesteht: Ihre Jackie ist eine herrliche Mischung aus Widersprüchen, nie ist sicher, was sich hinter ihrem manischen Grinsen verbirgt. Bis sie sich einmal in einem kurzen, zärtlichen Moment an Reeds Schulter zusammenrollt. Diese Sehnsucht nach menschlichem Kontakt wird danach über dem ganzen Film schweben. Auch wenn bis zum Schluss nicht klar ist, ob und wer hier wen töten wird.

Piercing als DVD und Blu-Ray bei jpc und als VoD.

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