Mediaplayer:Mach mal langsam

Filmstill „The Women Who Left“ von Lav Diaz (2016)
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Vorbild für die Entschleunigung: "The Woman Who Left" von Lav Diaz. Damit ein solch kontemplativer Vierstünder einen Kinostart in Deutschland bekommt (19.11.2017), muss er schon die Filmfestspiele von Venedig gewonnen haben.

(Foto: Verleih)

Wer die atemlose Geschwindigkeit der Hollywood-Blockbuster leid ist, kann jetzt entschleunigen: Ein neuer Streamingdienst bietet "Slow Cinema".

Von Sofia Glasl

Im Kino ist heute fast alles möglich. Immer schneller und rasanter werden die Schnitte, immer ausgefeilter die Spezialeffekte. Besonders die Blockbuster aus Hollywood zelebrieren die Beschleunigung und machen Tempo, um die oft mauen Geschichten künstlich aufzuwerten.

Das Sehverhalten des Publikums hat sich dieser immensen Bilderflut angepasst, die Zuschauer gewöhnen sich an die ständige Synapsenüberflutung.

Eine ganz andere Kino-Weltanschauung hingegen vertritt die in den letzten Jahrzehnten immer stärker werdende Bewegung des "Slow Cinema". Die Filme dieser Kunstrichtung der Langsamkeit verzichten bewusst auf handlungsorientierte Erzählmodelle und konventionelle Ästhetik.

Oft arbeiten Regisseure mit Laiendarstellern und minimalistischen Drehbüchern, Filme in Überlänge sind keine Seltenheit. Diese Form des Kunstkinos findet hauptsächlich auf Festivals statt und erfährt nur selten eine reguläre Auswertung.

Selbst etablierte Regisseure wie Lav Diaz, der 2016 mit seinem fast vierstündigen Epos "The Woman Who Left" den Goldenen Löwen in Venedig gewann, müssen oft lange auf einen Kinostart warten, wenn es denn überhaupt dazu kommt.

Kuratiertes Arthousekino statt inflationäres Binge-Watching

Diese Lücke füllt ein neuer Streaminganbieter. Seit Anfang des Jahres ist Tao Films online und wirbt mit Filmen, für die es sich lohnt, innezuhalten und zu entschleunigen.

Betrieben wird die Plattform von der Filmwissenschaftlerin Nadin Mai, die bereits das Blog "The Art(s) of Slow Cinema" betreut und an der University of Stirling über besagten Lav Diaz promoviert hat. Auf Tao bietet sie ausschließlich Slow Cinema an.

Ähnlich dem Konzept des Arthouse-Streaminganbieters Mubi zeigt Tao nur eine begrenzte Anzahl von Filmen gleichzeitig, momentan sind zwanzig Titel verfügbar. Alle drei Monate wechselt das Programm. Dem inflationären Binge-Watching-Angebot der großen Streaminganbieter setzt sie kuratiertes Arthousekino entgegen.

Der Minimalismus überträgt dem Zuschauer mehr Verantwortung

Die Seherfahrung des Slow Cinema ist eine langsame, kontemplative. So etwa in dem Spielfilm "Letters from the Desert" der Italienerin Michela Occhipinti. Darin fährt ein Briefträger mit dem Fahrrad durch die Thar-Wüste in Indien, um auch in die entlegensten Orte Post zu bringen. Mehr passiert nicht.

Um die Weite und Stille erfahrbar zu machen, zeigt die Regisseurin die Wüste in langen Einstellungen, nur mit dem Originalton der Aufnahme versehen. Da knirscht der Gummi der Fahrradreifen auf dem Sand, und die Kette rattert im Getriebe. Der Briefträger liefert die Briefe aus, und anders als der mausklickschnelle Empfang einer E-Mail ist dies in der Wüste noch ein Ereignis, zu dem die gesamte Familie zusammengerufen wird, um die Nachricht gemeinsam zu lesen.

Gesprochen wird kaum. Doch der Minimalismus bewirkt keine Minimierung von Bedeutung, vielmehr wird dem Zuschauer mehr Verantwortung übertragen. Leerstellen wollen besetzt, Filmbilder mit der Welt verknüpft werden. Das Verstreichen von Zeit und das subjektive Zeitempfinden werden zelebriert. Das Warten wird nicht zur Langeweile, sondern zum kontemplativen Zusehen.

Die atemlose Geschwindigkeit des Hollywoodkinos wirkt im Vergleich beinahe wie ein klaustrophobisches Korsett, eine bloße Kulisse, die zusammenbricht, sobald Stillstand eintritt.

Ein anderes Filmbeispiel stammt vom dänischen Regisseur Sebastian Cordes. In seinem Dokumentarfilm "A Place Called Lloyd", beobachtet er die absurde Loyalität und den Stolz der Airlinemitarbeiter von Lloyd Aéreo Boliviano.

Filmischer Minimalismus als maximale ästhetische Erfahrung

Die Firma ist bereits seit 2008 bankrott, doch die Belegschaft tritt immer noch täglich an und hofft auf eine neue Fluglizenz. In Tableau-artigen Bildern zeigt Cordes den Alltag auf dem langsam zerfallenden Hangar. Er fängt die hoffnungsvolle Lakonie dieses Ortes ein und macht die langen, ereignisarmen Tage, die seit Jahren langsam verstreichende Zeit, körperlich spürbar.

Der Zuschauer wird mit dem Regisseur zum Beobachter und Flaneur, der durch seine langsame Bewegung mehr sieht und hört. Filmischer Minimalismus als maximale ästhetische Erfahrung.

Der Streamingdienst Tao ist unter www.tao-films.com abrufbar, Langfilme kosten 4,99 Euro, Kurzfilme sind für 1,99 Euro erhältlich.

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