Süddeutsche Zeitung

Mediaplayer:Japanische Schundrevue

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Herzschmerz, Punk, Gemetzel: Sion Sonos Netflix-Edeltrash-Film "The Forest of Love".

Von Sofia Glasl

Der Streaminganbieter Netflix ist wie ein Süßwarenladen: für jeden Geschmack ist etwas dabei in diesem bunt verpackten Überangebot. Oft stopft man sich zu viel rein, und dann wird einem schlecht. Doch dieses Überangebot hat Methode, denn eigentlich herrscht Krieg. Die Konkurrenz schläft nicht, bald startet in den USA der mit einiger Aufregung erwartete Video-on-Demand-Service der Disney Studios, Disney+. Für zwei Dollar weniger im Monat als bei Netflix ist man als Abonnent dabei. Das ist eine klare Kampfansage.

Kein Wunder also, dass Netflix dagegenhalten muss. Neben Einkaufstouren auf den großen Filmfestivals sind Eigenproduktionen, die "Netflix Originals", im Film- und Serienbereich Standard. Dabei fällt auf, dass Netflix die eigentlich im Genrekino gängige Gießkannenmethode fährt: Viele Produktionen werden gleichzeitig herausgebracht, um alle Geschmäcker zu bedienen. Bei einer hohen Durchsatzrate soll auch die Anzahl der Hits entsprechend sein. Im Gegenzug gibt Netflix den Filmemachern nahezu unbegrenzte künstlerische Freiheit - ein Luxus, den nur noch wenige Produktionsfirmen gewähren. Zwar resultieren daraus oft Filme, die viel zu lang sind, weil in keinem Stadium der Entstehung von Produzentenseite eingegriffen wurde; doch die Erfolge scheinen der Strategie recht zu geben. Zudem werden gezielt Stars eingekauft, um Leuchtturmprojekte zu liefern: Alfonso Cuaróns "Roma" gewann dieses Jahr drei Oscars; Martin Scorseses Gangsterepos "The Irishman" läuft Ende November an. Doch nicht nur bei den Blockbustern, sondern auch im internationalen Genrekino kauft Netflix fleißig ein - oft einfach auch, damit andere Anbieter die Filme und Serien nicht bekommen. Der Koreaner Bong Joon-ho etwa stellte 2017 seine Fantasy-Dystopie "Okja" auf den Filmfestspielen von Cannes vor. In Japan investierte Netflix besonders viel Geld, die Plattform hat dort mit mehr als 6000 Filmen und Serien weltweit das größte Angebot.

"Filmen ist leicht! Stell einfach den Fokus auf unendlich und halte drauf!"

Kein Wunder also, dass der japanische Filmemacher Sion Sono nun auch ein Netflix-Original produziert hat, "The Forest of Love". Sono und Netflix scheinen wie füreinander gemacht, denn Sono kommt eben aus dem Genre-Film, genauer dem in den Achtzigern in Japan aufgekommenen "Hachimiri", was wortwörtlich übersetzt "acht Millimeter" bedeutet (hachi = acht, miri = Millimeter) und für das Aufnahmeformat steht. Ohne Budget und entgegen aller Konventionen entstand eine Do-it-yourself-Bewegung junger Filmemacher. "Filmen ist leicht! Stell einfach den Fokus auf unendlich und halte drauf", weist Sono in seinem Selbstporträt "I am Sion Sono!" (1985) einen Kollegen an. Haargenau so sind seine Filme auch: wilde Mischungen aus Exploitation, trashiger Seifenoper, eklektisch zusammengestückelten Soundtracks und wackeliger Kamera. 2001 schockierte er mit einem Massensuizid unter Schulmädchen in "Suicide Club". Mit dem religiösen Manga-Melodram "Love Exposure" wurde er 2009 auf der Berlinale mit zwei Preisen bedacht, und 2014 legte er mit "Tokyo Tribe" ein Rap-Musical mit Karate-Einlagen vor. Sein Output ist ähnlich hoch getaktet, wie der des Streaminganbieters - 2015 brachte er es auf fünf Filme.

Und "The Forest of Love"? Der Film ist all das und mit über zweieinhalb Stunden eine bunt beschwipste Schundrevue aus japanischem Schlager, Punk, Serienmördergemetzel und zäh-süßem Teenie-Melodram. Der Heiratsschwindler Joe Murata, der hier mehrere Familien gleichzeitig terrorisiert und mit zwei Amateurfilmemachern sein eigenes Leben verfilmt, ist die Mensch gewordene Sion-Sono-Retrospektive. Kippei Shiina spielt ihn entfesselt als charmant-übertriebenen Mann von Welt mit cholerischen Anwandlungen und Hang zu Sadomaso. Getarnt als Schlagersänger, dem die Frauenherzen zufliegen, wenn er seinen Hit "Pure Heart" schmettert, macht er sich an neue Opfer heran. Ein bisschen schlecht ist einem nach dieser überfrachteten Gewaltaktion, als hätte man ein ganzes Serienwochenende in zweieinhalb Stunden gequetscht erlebt und dabei drei Tafeln Schokolade gegessen. Aber genau das macht ja das Netflix-Gefühl oft aus.

The Forest of Love ist bei Netflix abrufbar.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2019
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