Süddeutsche Zeitung

Mediaplayer:Freaks unter sich

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Ein Moment intensiver Eleganz: Zum 40. Jubiläum erscheint David Lynchs Filmklassiker "Der Elefantenmensch" in einer neuen Edition.

Von Fritz Göttler

Auf dem einen Bild kniet ein Kind vor seinem Bett, betend, in Andacht. Auf dem zweiten liegt es im Bett, unter die Decke gekuschelt, friedlich schlafend. John Merrick betrachtet die Bilder, die an der Wand in seinem Zimmer hängen, aufmerksam, und die Bewegung, die zwischen ihnen zu spüren ist. Sie drängen über ihren Rahmen hinaus. Bilder mit Traumpotenzial.

John Merrick ist der "Elephant Man" im Film von David Lynch, der, vierzig Jahre nach seiner Entstehung, neu abgetastet auf DVD und Blu-ray wieder erscheint. John Merrick, 1862 bis 1890, ist ein schrecklich deformierter Mensch, ein riesiger Kopf mit Wülsten und Beulen, ein grober Buckel, eine stinkende, labbrige, blumenkohlartige Haut, der rechte Arm völlig unförmig, die linke Hand dagegen feingliedrig grazil. Er muss im Sitzen schlafen, sonst könnte sein schwerer Kopf ihm das Genick brechen. Er wird in einer Freak Show zur Schau gestellt, vom Zirkusmann Bytes, der fies und grausam ist, aber Gespür hat für Professionalität und die Gemeinschaft der Außenseiter. My treasure, sagt er behutsam über John Merrick.

Der zweite Film von David Lynch, nach "Eraserhead", der in den Rhythmen der schon sterbenden amerikanischen Großstadt pulsierte, ein Kultfilm der Midnight Movies. "The Elephant Man/Der Elefantenmensch" ist eine britische Großproduktion, Co-Produzent Mel Brooks, mit stockbritischen Akteuren, Anthony Hopkins, John Gielgud, Wendy Hiller, Freddie Jones. Kamera Freddie Francis, der Jahrzehnte bei den Horrorfirmen Hammer und Amicus arbeitete, auch als Regisseur. Der Film ist in plastischem Schwarz-Weiß, das Gaslicht-London, die verrußten Dickens-Gassen, großbürgerliche Interieurs und Romeo-und-Julia-Deklamationen. Aber: Regelmäßig werden in den Hospitälern die Opfer der Maschinenunfälle in den Fabriken zusammengeflickt. Fabriken statt Freaks, der Horror nimmt neue Form an. Der Film sprengt die Grenzen seines Genres.

Die Worte kommen langsam aber entschieden durch den Speichelfluss

John Merrick wird ins London Hospital gebracht von dem jungen Doktor Frederick Treves, auf dessen Erinnerungen der Film - und ein Theaterstück - basiert. Anthony Hopkins ist Treves, auch er braucht den Elephant Man für seine Show, er zeigt ihn im Vorlesungssaal den Kollegen.

Die Krankheit, die John Merrick so monströs entstellte, konnte bis heute nicht eindeutig diagnostiziert werden. Der Showman Bytes hat die Erklärung, im vierten Monat ihrer Schwangerschaft wurde Johns Mutter von einem wilden Elefanten attackiert. Der Film hat dazu die nötigen Albtraumbilder. Ein kleines ovales Porträt erinnert John an die Mutter, das erste der engelhaft mysteriösen Lynch-Geschöpfe.

John Hurt als Merrick ist unter der Maske nicht zu erkennen. Das Bonusmaterial, das ansonsten David Lynch und seiner Selbstdarstellung sehr viel Platz einräumt, zeigt in einem Beitrag, warum der Film in den letzten vier Jahrzehnten nichts von seiner Dichte verloren hat, weil eine Menge Leute mit Inspiration und Begeisterung daran arbeiteten. Der Film zeigt uns, wie einer seinen eigenen Schwerpunkt findet. John Merrick ist gebildet und sensibel, und es ist wunderschön, ihm beim Sprechen zuzuschauen, die Worte kommen langsam aber entschieden durch den Speichelfluss, es ist, als müssten sie sich entscheiden, ob sie hinuntergeschluckt werden oder zu Gehör gebracht. Sie klingen wie für den Moment, die Situation geschaffen. Man hatte, als der Film in die Kinos kam, schon gelernt über die Zusammenhänge von Sprechen und Denken, Geist und Psyche, bei den Franzosen, Foucault und Lacan, was Abartigkeit und Abnormität wirklich bedeutet für eine Gesellschaft.

Ein Mensch des Theaters, stellt die Schauspielerin Mrs. Kendal - Anne Bancroft, die Frau von Mel Brooks - John Merrick vor, als er zum ersten Mal eine Theateraufführung besucht. Das Publikum wendet der Bühne den Rücken zu und applaudiert dem Mann in der Loge. Ein Moment, der frei ist von Abscheu, Mitgefühl. Ein Moment intensiver Eleganz und Delikatesse.

Am Ende schaut sich John Merrick das zweite Bild wieder an, nimmt die Kissen von seinem Bett. Er wird den Rahmen des ersten Bildes überschreiten. Und die Mutter versichert ihm: "Never, oh never, Nottingham will die."

Der Elefantenmensch erscheint am 23. April als Jubiläumsedition auf DVD, Blu-ray und Video on Demand (Studiocanal/Arthaus).

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Quelle:
SZ vom 20.04.2020
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