Süddeutsche Zeitung

Theater:Gegen das System

Anna Bergmann inszeniert Christa Wolfs "Medea. Stimmen". Sie will am Staatstheater Karlsruhe die Leitungsstruktur umkrempeln

Von Egbert Tholl, Karlsruhe

Diese Medea ist keine Kindsmörderin, keine Brudermörderin und auch nicht die Mörderin der Braut ihres Geliebten. Sie ist eine Gefangene, das schon, aber das sind alle hier, in diesem faszinierenden Glaskastenlabyrinth, mit dem Jo Schramm die Bühne im Staatstheater Karlsruhe vollgestellt hat. Sie, Medea, kennt die Geheimnisse der Städte, egal ob Kolchis oder Korinth, sie kennt die Abgründe deren Herrscher, die ihre Macht auf der Ermordung der eigenen Kinder bauten. In dieser Medea gerinnen Jahrtausende eines Mythos, und nun sitzt Sarah Sandeh da, die diese Medea mit rauer Emotionalität, mit Liebe und Stolz füllt, Glutofen einer selbstbewussten Frau: "Ich bin keine junge Frau mehr, aber wild noch immer, das sagen die Korinther, für die ist eine Frau wild, wenn sie auf ihrem Kopf besteht."

Das passt. Anna Bergmann, Schauspieldirektorin am Staatstheater Karlsruhe, inszeniert Medea. Aber nicht eine der antiken Überlieferungen. Sie adaptiert Christa Wolfs Roman "Medea. Stimmen" für die Bühne, schuf aus den Monologen, die Wolf den einzelnen Figuren zuschreibt, eine dialogische Fassung, gab eine Prise Grillparzer hinzu und hörte auf die Wünsche der Darstellenden. Ihre Medea ist gefangen in Systemen, die sie völlig durchschaut, aber an diesen nichts ändern kann. Da geht es Anna Bergmann anders.

Bergmann kam 2019 in ihre Position und traf in Karlsruhe auf den Intendanten Peter Spuhler. Spuhler brennt fürs Theater - als er, 20 Jahre etwa ist dies her, das Landestheater Tübingen leitete, sah er ein Jahr lang seine Wohnung in der Altstadt nicht, weil er lieber auf dem Sofa im Theater übernachtete. Solche Verrückten darf es geben beim Theater, aber Spuhler konnte nur schwer nachvollziehen, dass für seine engeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine de facto 60-Stunden-Woche womöglich ausreichend war.

Bergmann will in der Schauspielabteilung Hierarchien komplett abschaffen

Am Staatstheater Karlsruhe, das Spuhler als Generalintendant 2011 übernahm, verschärfte sich sein Verhalten insofern, als er, folgt man zahlreichen Äußerungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, einen Kontrollwahn entwickelte, extremen Druck und ein "Klima der Angst" aufbaute. 2020 wurde dies öffentlich; vor einigen Monaten schließlich wurde Spuhlers Vertrag auf erheblichen Druck von außen aufgelöst. Es gibt in Karlsruhe Stimmen, die sagen, das sei konservativen Opernfreunden gerade recht gekommen, weil Spuhlers Vorlieben für innovative Regielösungen diesen schon lange nicht mehr gefallen hätten. Als Nachfolger von Spuhler holte man Ulrich Peters aus Münster; zuvor war der Intendant in Augsburg und am Münchner Gärtnerplatztheater gewesen.

Die Debatte um Spuhlers Führungsstil führte dazu, dass am Karlsruher Haus an einem runden Tisch ein Maßnahmenkatalog zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen erstellt wurde, ein Steuerungsgremium, gebildet aus allen Abteilungen des Hauses, das gemeinsam mit der Theaterleitung für die Umsetzung Sorge tragen soll. Anna Bergmann geht da noch weiter. Innerhalb der Schauspielabteilung will sie Hierarchien komplett abschaffen. Gemeinsam mit ihrer Stellvertreterin Anna Haas, die auch die Dramaturgie bei "Medea. Stimmen" innehat und dem Schauspielmanager Christian Schürmann will sie ein Leitungsteam bilden, in das auch zwei Vertreter des Ensembles aufgenommen werden sollen. Noch, bemängelt Bergmann, bestünden die hierarchischen Jobbeschreibungen, das will sie abschaffen. Ulrich Peters, der zumindest am Gärtnerplatztheater noch nicht durch moderne Leitungslösungen aufgefallen war, habe da durchaus Bereitschaft signalisiert.

Man darf Bergmann durchaus zutrauen, dass sie in Karlsruhe die Zukunft des Theaters entwickelt

Bergmann begreift ihre Schauspielabteilung als Keimzelle eines Gegenmodells, das auf einen Umgang auf Augenhöhe basieren soll, das mit menschlichen und finanziellen Ressourcen sorgsamer umgehen und die Freiheit künstlerischer Prozesse vorantreiben will. Im Grunde kann sie dem Patriarchen Spuhler durchaus dankbar sein. Er gab den Anstoß. Bergmann: "Wenn er sich nett und freundlich verhalten hätte, wäre die jahrhundertealte Leitungsstruktur erhalten geblieben."

Man darf Anna Bergmann durchaus zutrauen, dass sie im Badischen die Zukunft des Theaters entwickelt. In der Regie hat sie das Geschlechterverhältnis bereits umgedreht, hier arbeiten deutlich mehr Regisseurinnen als Männer. Auch in "Medea. Stimmen" stehen starke Frauen auf der Bühne. Die grandios brodelnde Sarah Sandeh, das eigentümliche Körperwesen Swana Rode als Medeas einstige Schülerin, Sina Kießling als Akama, Machtstrategin in Korinth, eine gnadenlose Margaret Thatcher - aber wieso sollen Frauen in Machtpositionen freundlicher sein als Männer?

Die Aufführung hat etwas Redundantes, besitzt aber irrsinnige Kraft und eine eisige Temperatur, in der man sich Brandblasen holt. (Zeichentrick-)Filme erzählen die Vorgeschichte, Jason (Thomas Schumacher) raubt mit Medeas Hilfe das Goldene Vlies aus Kolchis, das stark an die DDR erinnert - ein Verweis auf Christa Wolfs Biografie. Dem gegenüber steht das kapitalistische Korinth, in dem Glauke, die Königstochter, aus Gründen des Machterhalts an Jason verschachert werden soll. Voller Herzeleid: Frida Österberg, Opernsängerin im Schauspielensemble, spielt Glauke und singt Arien aus Cherubinis "Medea"-Oper, hochgradig ergreifend, umgeben von einem knisternden Sounddesign (Hannes Gwisdek). Sie ist das umgekehrte Spiegelbild Medeas. Opfer die eine, das wilde Gegenmodell die andere. Doch deren Sieg steht noch aus.

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