Süddeutsche Zeitung

Mechtilde Lichnowsky: "Werke":"Verehrte Fürstin!"

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Geniale Freundin und Universalmensch: Eine Werkausgabe entreißt die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky gerade noch rechtzeitig dem Vergessen. Wer war diese Frau?

Von Jens Malte Fischer

Sie war eine imponierende Erscheinung: blond, groß, man nannte ihren Typus seinerzeit "junonisch", was keineswegs übermäßige Körperfülle meinte, sie besaß ein edel-klares, ebenmäßiges Gesicht, sie scherte sich nicht um Konventionen, obwohl oder weil sie einer adligen Familie entstammte und in eine adlige Familie einheiratete. Es gibt Fotos von ihr, die sie Pfeife rauchend zeigen. Einmal ließ sie sich für ein Passfoto mit einem ihrer über alles geliebten Dachshunde fotografieren - der Hund musste weggeschnitten werden, weil auf einem Passfoto nicht zwei Personen abgebildet sein durften. Ihr Freund Karl Kraus nannte sie "eine Frau, die mehr Geist hat als sämtliche deutschen Schriftsteller zusammen" (und das von einem Mann geschrieben, der den Zusammenhang von Frau und Geist zuvor nicht immer betont hatte). Ein anderer Freund, Hugo von Hofmannsthal, sprach von ihrer "leidenschaftlichen, fast beunruhigenden Offenheit".

Mechtilde Lichnowsky (in frühen Veröffentlichungen auch Mechtild) trug den Namen ihres Ehemanns, stammte aber selbst aus keineswegs unbedeutendem Adel, denn sie war in direkter Linie eine Nachfahrin der Kaiserin Maria Theresia und ein Spross der Familie Arco-Zinneberg. Aufgewachsen ist sie auf dem niederbayerischen Schloss Schönburg.

Sie genoss jene Erziehung, die man damals den sogenannten höheren Töchtern zukommen ließ, ragte aber in vielen Bereichen weit über den Durchschnitt hinaus. Sie spielte so gut Klavier, dass sie Beethovensonaten auswendig vortragen konnte, sie komponierte später für Karl Kraus Musik zu Nestroy-Couplets, die der mit größtem Erfolg vortrug, sie zeichnete und malte auf hohem Niveau. Ihre Karikaturen und Tierzeichnungen sind von hoher Präzision und erheblichem Witz, und es existiert ein Ölporträt des späteren Ehemannes, den auch Max Liebermann gemalt hat - die Ehefrau kann durchaus mithalten. Als Schriftstellerin war sie in der Zeit um den Ersten Weltkrieg herum und in den zwanziger Jahren nicht unbekannt. Wenn man einmal "uomo" als "Mensch" übersetzt, dann war Mechtilde Lichnowsky ein uomo universale.

Ihr deutlich älterer Ehemann Karl Max Fürst Lichnowsky stammte ebenfalls aus illustrer Familie. Sein Vorfahre Carl Lichnowsky war ein Freund und wesentlicher Förderer Beethovens gewesen. Karl Max war Diplomat und nach wechselvoller Karriere 1912 deutscher Botschafter in England geworden. Es ist ein Ruhmesblatt seiner Biografie, dass er 1914 der einzige deutsche Diplomat auf vorgeschobenem Posten war, der mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, vor dem Krieg warnte und dies auch in Denkschriften niederlegte. Seine diplomatische Karriere war damit zu Ende.

Mechtilde Lichnowsky war ein Genie der Freundschaft. Sie lancierte einen Spendenaufruf für den mittellosen Rainer Maria Rilke, noch von London aus, der dann durch den Kriegsausbruch obsolet wurde, auch dadurch, dass Ludwig Wittgenstein sowohl Rilke wie auch Georg Trakl einen großen Betrag zukommen ließ. Für Johannes R. Becher, später Kulturminister der DDR, damals ein junger aufstrebender Lyriker, gefährdet durch eine instabile Persönlichkeit, hat sie ebenfalls einiges getan. Der Jugendfreund Wilhelm von Stauffenberg ist weniger bekannt, aber kaum weniger faszinierend. Zunächst Jurist, dann Mediziner, Neurologe, Psychoanalytiker, hat er viele beeindruckt, die ihm begegneten, wie unter anderen Hofmannsthal bezeugt hat. Körperlich eingeschränkt, ist er früh gestorben.

Und dann natürlich Karl Kraus. Berühmt geworden und von ihm und von ihr literarisch thematisiert ist ihre Lebensrettung aus den Stromschnellen der Moldau, in die sie beim Baden hineingeraten war, durch den geübten Schwimmer Kraus. Ihre Freundschaft, geprägt durch geistige Übereinstimmung und persönliche Sympathie, hatte, mit kurzen Trübungen, Bestand bis zu seinem Tod. Brieflich sprach er sie mit "Verehrte Fürstin!" an. Einmal schrieb er: "Wie gerne möchte ich für all den Reichtum, den ein Herz und ein Kopf seltener Verbindung bieten, würdig danken", und sie widmet ihr fulminantes sprachkritisches Buch "Worte über Wörter", an dem sie lange Jahre arbeitete, bevor es dann 1949 endlich erschien, "in Freundschaft dem damals lebenden Karl Kraus und heute dem unsterblichen".

Eva Menasse schreibt, Lichnowsky habe sich nicht mit intellektuellen Männern vergleichen mögen

Mit diesem Text sind wir bei der hoch erfreulichen Auswahlausgabe ihrer Schriften, die soeben, kundig und souverän herausgegeben von Hiltrud und Günter Häntzschel, im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung, erschienen ist. Es ist die erste Ausgabe gesammelter, wenn auch nicht sämtlicher, Schriften von Mechtilde Lichnowsky, gerade noch rechtzeitig, könnte man sagen, bevor ihr Name gänzlich der Vergessenheit anheimgefallen wäre. Beleg für diese Situation ist die Tatsache, dass bis zum Erscheinen dieser Ausgabe überhaupt nur noch ein Titel von ihren insgesamt 18 Büchern lieferbar war.

Liest man sich fest in den vier Bänden dieser ebenso schönen wie willkommenen Ausgabe, kommt man verdachtsweise dem Phänomen näher, warum Mechtilde Lichnowsky, trotz aller unüberlesbaren erheblichen Vorzüge ihres Schreibens, zu Lebzeiten der große Durchbruch zu einer Erfolgsautorin, wie er etwa Vicki Baum gelang, versagt blieb. Und erst recht schaffte sie es nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie wieder in London lebte, nicht mehr, am deutschen literarischen Leben teilzuhaben.

War sie, wie Eva Menasse in ihrem engagierten einleitenden Essay schreibt, sich wirklich letztlich nicht sicher, ob sie sich mit intellektuellen Männern vergleichen konnte? Dies kann bezweifelt werden. Entscheidender mag sein, dass sie ganz offensichtlich keine Autorin mit scharf umrissenem Markenzeichen und prägnanter Wiedererkennbarkeit sein wollte. Die Vielseitigkeit ihrer Begabungen spiegelt sich auch in ihrem Schreiben, und es mag diese Universalität ihrer Lebens- und Sprachklugheit sein, verbunden mit deutlichen Niveauanforderungen an sich selbst und die Leser, die damals einen noch breiteren Erfolg verhinderten. Es ist zu hoffen, dass dies heute doch anders aussieht.

Sie debütiert mit einem Buch über eine Ägypten-Reise, sie schreibt Prosa, die man unter der Rubrik "Gesellschaftsromane" verbuchte, sie verfasst einen durchaus erfolgreichen Roman "An der Leine", der durch seinen Titel Hundeliebhaber anzieht (Lichnowsky ist überhaupt eine Tierversteherin und -beschreiberin ersten Ranges), aber es ist ein Roman nicht nur über Mensch und Hund, sondern auch über Hund und Mensch, über den Menschen und die Natur insgesamt. Max Reinhardt führt ein Stück von ihr auf.

Durchaus von einer gewissen Resonanz begleitet ist "Der Kampf mit dem Fachmann" (der einzige Text, den man in dieser Auswahl vermisst), eine satirische, hoch witzige Auseinandersetzung mit dem, was man heute Experten(un)kultur nennt. Sie schreibt genauso eindrücklich autobiografisch über ihre Kindheit, wie sie für ihre sprachkritischen Überlegungen Zitate von Hitler sammelt, dieser "Kreatur aus Braunau, deren Namen nie über meine Lippen kommt", "ein Wirrkopf trostlos trauriger Berühmtheit". Auf diese Weise kann man ihr ebenso tiefschürfendes wie unterhaltendes Buch "Worte über Wörter" durchaus neben Victor Klemperer und Karl Kraus stellen.

Ganz im Sinne von Kraus, auch in dem Wittgensteins, schreibt sie: "Ist der Gedanke klar (niemals kann etwas Unklares 'Gedanke' heißen), so ist es auch die Sprache, die ihn ausdrückt." In Wittgensteins "Tractatus" heißt es: "Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen" (es ist nicht belegbar, dass Lichnowsky diesen Text Wittgensteins kannte). Ihr hochentwickeltes Sprachgefühl bildet sich ab in ihrem kristallinen, nuancierten, biegsamen Stil, ihre Prosa ist oft witzig-satirisch getönt, manchmal auch erfrischend boshaft, keine Zeile dieser Autorin verbreitet Ödnis oder fade Gediegenheit.

Die vier Bände dieser schönen Ausgabe (die auch einen unveröffentlichten Roman aus dem Nachlass enthält) bieten also reichlich Anlass, sich zu freuen über die Wiederentdeckung, besser gesagt Neuentdeckung einer der ganz großen deutschen Schriftstellerinnen.

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