Maxim Billers Opus magnum "Biografie":Kraftakt gelungen, Roman tot

Maxim Biller veröffentlicht sein Buch "Biografie".

Nur ja keine Unterbrechung, kein Innehalten, sonst stürze ich ab: Maxim Billers Opus magnum "Biografie" entsteht aus der Häufung von Episoden, Sketchen, Sitcom-Pointen.

(Foto: ZB)

Maxim Biller will das Leben selbst zu Wort kommen lassen. Das Ergebnis sind 900 Seiten "Biografie" - eine hochtourig leerlaufende Stilübung ohne erzählerischen Zusammenhang.

Von Lothar Müller

Manchmal geben ältere Autoren jüngeren Autoren gute Ratschläge. Der Schriftsteller Maxim Biller hat das kürzlich in der "Landpartie" getan, der jährlich erscheinenden Anthologie des "Instituts für literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft" in Hildesheim.

Nummer 2 seiner "33 Gründe, warum Sie Schriftsteller werden und auch bleiben sollten", lautet: "Sie schreiben nur über das, was Sie selbst erlebt, gesehen und erfahren haben." Nummer 12: "Sie schreiben offen über Ihre eigenen Gefühle, Erfahrungen und Handlungen, von denen nicht einmal Ihr bester Freund etwas weiß." Nummer 21: "Ihr Stil ist klar, aber Ihre Gefühle und Gedanken sind düster. Und trotzdem und gerade deshalb haben Sie Humor."

Gerade ist der Roman "Biografie" von Maxim Biller erschienen. Er hat knapp 900 Seiten und darin steckt ein großer Kraftakt: den einmal angeschlagenen Ton bis zum Ende durchzuhalten. Der Kraftakt gelingt, und deshalb scheitert der Roman. Seine Handlung zusammenzufassen, wäre unsinnig. Denn die Figuren und Ereignisse sind nur dazu da, den Stil zur Geltung zu bringen, in dem das Ganze geschrieben ist.

Er klingt, wenige Sekunden nach dem Start, so: "Während ich, der alles wissende, nichts verstehende Solomon Karubiner, in Prag auf einem Balkon des Hotels U Dvou koček stand, auf dieses blasse frühkapitalistische Silvesterfeuerwerk über dem Hradschin guckte und überlegte, was der Unterschied zwischen Neoliberalismus und Kommunismus war - kommt darauf an, wer fragt -, rutschte Noah in Berlin fast aus bei dem Versuch, sich Gerry Harper zu nähern, in Brentwood und Umgebung wegen seiner sexuellen Möglichkeiten auch ,El Dick' genannt.

Gerry war mit Tal ,The Selfhater' Shmelnyk da, dem manischen, rotgesichtigen, matzebrotdünnen Israeli, der für Noah das zweite Goebbels-Video drehen sollte, was er aber noch nicht wusste.

Hohe Adjektiv-Dichte, viele Figuren und Schauplätze auf engem Raum, hohes Tempo

Noah wollte Gerry ein gutes neues Jahr wünschen. Er wollte ihn auch fragen, ob sie sich nicht mal in L. A. sehen könnten - entre nous -, er habe dort wegen der Beteiligung an einem Fairtrade-Kosher-Nacho-Inn bald zu tun. Und er wollte ihm sagen, aber erst später, er könne nur in der Gegenwart besonders berühmter, bedrückter Leute seine eigenen Geld- und Post-Holocaust-Depressionen vergessen.

Vor allem, wenn diese Leute wie Gerry ,El Dick' Harper im letzten Bryan-Singer-Film den neuen Obernazi Tom Cruise an die Wand gespielt hatten, an der dieser zum Schluss von den anderen Gojim in gehackte Leber verwandelt wird."

Klarer Stil? Sagen wir mal so: hohe Adjektiv-Dichte, noch höhere Dichte von Namen und Wörtern, die Jüdisches signalisieren, viele Figuren und Schauplätze auf engem Raum, hohes Tempo, und die - hier noch dezente - Neigung, Substantiv-Reihen mit Bindestrichen durchzukoppeln.

Hingebungsvolle Onanisten

Der Ich-Erzähler Solomon, genannt "Soli" Karubiner teilt mit seinem Autor Maxim Biller die Herkunft aus einer russisch-jüdischen Familie, die aus Prag in die Bundesrepublik emigrierte, ist aber anders als sein 1960 geborener Autor Jahrgang 1963. Denn der Untertitel, Roman, hebt den Titel, Biografie, auf. Aber was ist die Idee hinter diesem Turbo-Pointen-Feuerwerk-Stil? Knappe Antwort: Sitcom.

Zur Welt von Gerry Harper - Sie erinnern sich, "El Dick" - gehört der Hollywood-Schauspieler George Costanza. Die Serie, aus der er entliehen ist, hieß "Seinfeld", lief zwischen 1989 und 1998 und Solomon Karubiner mag sie sehr.

Sein Freund heißt Noah Forlani, beide entstammen turbulenten Familien, in denen Sex eine große Rolle spielt, beide haben schriftstellerische Ambitionen, beide sind hingebungsvolle Onanisten. Und natürlich haben sie "Portnoys Beschwerden" von Philip Roth gelesen.

Stoff des Buches ist die Innenwelt der "Second Generation" nach dem Holocaust

Aber ihr Schicksal ist, dass ihr Autor die ewigen Appelle, der Roman solle sich ein Beispiel an den amerikanischen Serien nehmen, etwas zu sehr zu Herzen genommen hat. Er will partout die Schlagzahl der Pointenproduktion erhöhen und klingt dann schon auch mal wie deutsche Comedy: "damals hielten alle Pilates noch für eine besonders großflächige Perforierung weiblicher Oberschenkel oder für einen römischen Provinzgouverneur in Palästina in der Zeit von Joschua ben Josef."

Nun ja. Diese Pilates-Pointen passen zu den eher schlichten Techniken der Herstellung eines eingängigen Slangs: zum allgegenwärtigen Präfix "pseudo" ("pseudosensibel", "pseudozüchtig", "pseudo-gelangweilt") und der beliebten Koppelung von "nicht" und "un" ("nicht unstreng", "nicht unmeditativ", "nicht unwitzig").

Der Stoff dieses Buches ist die Innenwelt der "Second Generation" nach dem Holocaust: es gibt Väter, die die Großväter dem Tod überantwortet haben, Agenten im Dienst des Kommunismus, zwielichtige Kunst- und Immobilienhändler zuhauf, bizarre Sexpraktiken, getürkte Selbstmorde und Enthauptungsvideos; die Handlung springt hin und her zwischen Hamburg und Tel Aviv, Berlin und Buczacz in der Ukraine, Prag, New York, Los Angeles, und die Traumatisierungen entspringen nicht nur dem Holocaust, sondern auch den Einsätzen der Armee und dem alltäglichen Terror in Israel.

Darüber schwebt die Hoffnung des Autors auf den großen Erlöser, den Witz (samt nicht ununfeministischem Herrenwitz), streng herrscht der Stil über den Stoff.

Sinnbild dafür ist die Schlüsselrolle, die er das "Wichsvideo" seines Helden Solomon Karubiner spielen lässt. Es ist in einer Sauna entstanden, als Solomon, eigentlich eifriger Nutzer der Website "Wefuckonlyjews" (WFOJ) angesichts des voluminösen Hinterteils einer Deutschen Hand an seinen "Dudek" legt.

Der Versuch, einen obszönen Comic in Prosa nachzubauen

Aus der Sauna-Episode geht die Flucht Karubiners von Berlin nach Israel hervor, außerdem eine Erpresser-Nebenhandlung und der Versuch des Autors, einen obszönen Comic in Prosa nachzubauen, als Freund Noah auf das Video stößt: "Noah klappten, nachdem er sich konzentriert, aber einigermaßen unerregt beide Teile angeschaut hatte, wie einer Comicfigur die Augen aus dem schwitzenden, eiskalten Schädel.

Lilly hatte also doch recht gehabt! Lilly Schechter, die rothaarige Tittenpferdkuh aus den verschmutzten und totally überbewerteten Boheme-Distrikten von Tel Aviv, mit der er vom Sudan aus und später von seiner entropischen Weltreise über die exklusive BDSM-Line von WFOJ ab und an cumhalber skypte, hatte ihm schon letztes Jahr von ihrer irren Netz-Affäre mit diesem deutsch-jüdischen Schreiberling erzählt, der beim Cybersex ein Kondom aufsetzte.

Maxim Billers Opus magnum "Biografie": Maxim Biller: Biografie. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 896 Seiten, 29,99 Euro. E-Book 24,99 Euro.

Maxim Biller: Biografie. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 896 Seiten, 29,99 Euro. E-Book 24,99 Euro.

,Wieso das denn, Lilly?' Er meinte, er würde immer so viel und so weit spritzen, dass er seinen Mac vor seinen fruchtbaren, extrem ätzenden Premium-Spermien schützen müsste.' ,Hat er wirklich ,Premium-Spermien' gesagt? ,Ja. Gut, oder? Ich fand das auch originell. Ich hab's gleich in mein Comedyprogramm eingebaut.'"

"Zuviel vom selben" - daraus geht das Völlegefühl hervor, das sich bald einstellt

Das steht irgendwo kurz vor Seite 600. Da ist längst klar, dass keine der Figuren die Hauptrolle spielt, sondern der Stil, der schon nach 100 Seiten wie ein rasender Stillstand wirkt, in dem die Panik des Autors rotiert: Nur ja keine Unterbrechung, kein Innehalten, sonst stürze ich ab. Ich muss da durch, durch die Coolness der Vergleiche ("Wenig später im Flugzeug nach Khartum zog es wie in Dora-Mittelbau" etc.), das Gewühl von "Gefickten" und "Ungefickten", ich darf keine Pointe auslassen.

"Zuviel vom selben" - daraus geht das Völlegefühl hervor, das sich bald einstellt. Wenn aber die Erzählerstimme auf das Auswalzen der Pointen verzichtet, stellt sich plötzlich das angezielte "Catch 22"-Flimmern des bösen Witzes ein: bei der auf die entscheidenden Schrecksekunden fokussierten Figur des traumatisierten Elitesoldaten Tal, der zum Selbstmörder wird.

Es gibt, zwischendurch, Sätze wie diesen: "Er verstand nicht, woher dieser sündhaft teure Spazierstock kam, mit dem er wütend gegen den Tisch schlug." Sie sind in der Minderheit.

Das Ganze könnte auch 400 Seiten kürzer oder 200 Seiten länger sein

Zu dieser Minderheit gehören die Schlusssätze: "Später - es war schon fast zwölf und kein einziger Mensch war mehr auf den Straßen von Iwano-Frankiwsk - saßen Noah und ich noch lange auf der kalten Treppe der Podolischen Bezirksphilharmonie und warteten darauf, dass das Ukrainische Befreiungsorchester drinnen etwas Schönes, Trauriges für uns spielte, etwas, das so klang wie das Leben selbst. Aber wahrscheinlich schliefen die Musiker schon, denn man hörte von dort keinen Ton." Die Stimme, die hier zu Wort kommt, ist die des Erzählers Maxim Biller.

Er ist mit dem Journalisten, der mit der Kolumne "100 Zeilen Hass" berühmt wurde, verwandt, hatte aber ein eigenes Projekt. Die Zeitschrift Tempo war für ihren lässig-coolen Ton berühmt. Der Erzähler Maxim Biller suchte nach einer deutschen Entsprechung für einen Ton, den es längst gab.

Er hat in seinem schlanken, gut lesbaren Buch "Der gebrauchte Jude" (2009) von den Lektüren berichtet, die darin eingingen: Saul Bellow, Joseph Heller, Philip Roth, Mordecai Richler. Das war die amerikanische Seite.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Von ihr kamen die Stimmen der Juden in einem Einwanderungsland, das den Holocaust nur aus der Ferne kannte. Und es gab die europäische, vom Ghetto, vom Holocaust und Exil geprägte Seite: Bruno Schulz, der auf Polnisch, Samuel Joseph Agnon, der in Israel auf Hebräisch schrieb, halb vergessene Erzähler wie David Vogel aus Podolien, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde und dessen aus dem Nachlass herausgegebenen Roman "Eine Wiener Romanze" Biller für sich entdeckte.

Zu seinen literarischen Anfängen gehörte der Satz, "dass Prosa im Präsens unlesbar ist". Das war ein Bekenntnis zum alten Bündnis des Erzählens mit dem Imperfekt.

Der Erzähler ist nahezu verschwunden

Heraus kamen nicht nur viele Short Stories, die zu ihren amerikanischen Vorbildern hinübergrüßten, es entstand auch ein Erzählband wie "Bernsteintage" (2004), lesenswerte Geschichten mit sehr einfachen Anfangssätzen: "Vor der Abreise nach Luzienbad sah David ein letztes Mal in seinen Rucksack." "Draußen fuhr wieder ein Zug vorbei." "Manchmal sah Emi wie David aus, obwohl sie ein Mädchen war."

Der Erzähler, als den sich Maxim Biller ursprünglich entwarf, schrieb "Ein ganz normales Leben" über eine seiner Geschichten, er folgte, ästhetisch gesehen, einem konservativen Programm. "Retro-Design" könnte es in seinem neuen Buch heißen, aus dem der Erzähler nahezu verschwunden ist: das Opus magnum "Biografie" entsteht aus der Häufung von Episoden, Sketchen, Sitcom-Pointen, jiddischen Brocken und Begriffen der jüdischen Alltagssprache, das Ganze könnte auch 400 Seiten kürzer oder 200 Seiten länger sein, einen erzählerischen Zusammenhang entfaltet es nicht.

Aber der große Erzähler Samuel Joseph Agnon taucht in den Lektüren der Freunde Solomon und Noah auf, seinen Herkunftsort, die galizische Kleinstadt Buczacz, hat Biller zum Ursprungsort der Familien seiner Protagonisten gemacht, und zum Fluchtpunkt seines Romans.

Von Saul Bellow oder Kafka ist wenig zu spüren

Das ist eine Reverenz an den Ton und Erzähltypus "einfacher Geschichten", in dem es Biller schon weit gebracht hatte, der aber hier fast ganz verschwunden ist, um dem neuen bösen, demonstrativ unkorrekten, Holocaust und Hoden verkuppelnden Star Platz zu machen.

"Es gibt in der Kunst ein unumstößliches Gesetz. Was einer recht auffällig ins Schaufenster legt, das führt er gar nicht", hat Kurt Tucholsky einmal geschrieben und als Beispiel die Männlichkeit bei Brecht genannt. Maxim Biller wird nicht müde, die Literatur zur propagieren, in der das Leben selbst zu Wort kommt, das selber Gesehene und Erfahrene. Und den Literaturstudenten in Hildesheim hat er verordnet: "Kafka, nicht Thomas Mann!" "Saul Bellow, nicht David Foster Wallace!"

In diesem Roman, einer monströsen, über weite Strecken hochtourig leerlaufenden Stilübung, ist von Saul Bellow oder Kafka wenig zu spüren. Das Sitcom-Format hat das Leben so fest im Griff, dass es kaum noch Luft bekommt.

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