Max Raabe über Schlager:Verrückt nach Hilde

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Er sang auf der Hochzeit von Marilyn Manson und Dita von Teese. Mit engelsgleichen Gesichtszügen säuselte er tiefschwarz-satirische Texte. Im Interview spricht Max Raabe über Abendkleider, Trägheit und Amy Winehouse.

Rebecca Casati

Max Raabe ist eben aus den USA zurück - im New Yorker Central Park entstand unser Foto. Und nun? Ein Hinterhof in Berlins Mitte: Hier, in einer mit altem Parkett ausgelegten Fabriketage, wohnt der Sänger. Er besitzt kein Handy, ins Internet schaut er nicht, seine Musik-Anlage ist von vorgestern. Ansonsten hat der Interpret von Schlagern aus der Weimarer Zeit nichts aus der Zeit Gefallenes. Seine Einrichtung wirkt auf unprätentiöse Weise durchdacht und geschmackvoll, es gibt Bücher, Samtfauteuils und einen Konzertflügel in der Mitte des Raums. Raabe trägt Pullover und Hose, perfekt geschnitten, grau. Sein Haarschnitt kann unmöglich älter als drei Tage sein. Auf der Marmorplatte seines Küchentischs liegen einige Gemüse - vielleicht wurden sie dort aber auch kunstvoll-beiläufig arrangiert. Er macht lieber eine lange Pause, als etwas Banales oder Emotionales zu sagen. Seine Augen blicken kühl und freundlich zugleich.

SZaW: Es ist sehr schön hier bei Ihnen, Herr Raabe. Und doch anders als erwartet.

Max Raabe: So?

SZaW: Man stellt sich vor, dass Sie sich in einem Paralleluniversum eingerichtet haben, im Ambiente Ihrer Lieder.

Raabe: Vielleicht ist da ja auch was dran. Aber wenn man das so hört, klingt es ein bisschen humorlos, als machte sich jemand mit übertriebener Nostalgie das Leben schwer. Ich werde oft gefragt: Wie sieht es denn bei Ihnen zu Hause aus? Dann sage ich immer, weder Art Deco noch Ikea, meine Umgebung muss vor allem partytauglich sein. Und in dieser hier kann man tolle Partys geben.

SZaW: Sie wurden berühmt mit Schlagern der Weimarer Republik, die Sie mit rollendem "R" vortragen. Gerade machen Sie Weltkarriere. Und viel mehr weiß man nicht über Sie.

Raabe: Ich finde das prima. Ich selber will von vielen Künstlern auch nicht mehr wissen als das, was sie auf der Bühne zeigen. Wenn ich im Fernsehen sehe, wie spießig und phantasielos mancher Rapper lebt, denke ich: Oh mein Gott, das hätte ich ja jetzt ganz gerne nicht gewusst.

SZaW: Optisch entziehen Sie sich der Bewertung, indem Sie und Ihr Orchester nur in Smoking und Abendkleid auftreten.

Raabe: Unsere Anzüge sind tatsächlich von bewusst klassischer, neutraler Schnittform. Unsere Geigerin trägt Abendkleider, die sie auch bei der Oscar-Verleihung oder auf einem großen Ball tragen könnte, klassisch und zeitlos. Sie trägt keine Boa oder sonst etwas, das an die Zwanziger oder Dreißiger erinnert. Das ist der Punkt unserer Präsentation: Was wir auf die Bühne bringen, ist nicht Nostalgie.

SZaW: Sondern?

Raabe: Eine Spiegelung. Diese Lieder haben ja, selbst als sie damals entstanden, nicht die Realität abgebildet. Das war zu Zeiten der Depression, und viele Texte handeln von etwas Verrücktem, wie Amalie, die mit einem Gummikavalier ins Schwimmbad geht. Andere sind von schlagfertigem Humor, aber unterschwellig von Fatalismus und Schwermut geprägt. "Ich lass mir meinen Körper schwarz bepinseln" von Friedrich Hollaender beispielsweise ist insofern ein Spiegel der Zeit, als er letztlich sagt: Ich will hier weg aus Deutschland, und zwar dahin, wo es, wie es heißt, "paradiesisch neu" ist. Schon deshalb geht es uns also nicht um ein Früher-war-alles-besser-Getue. Wir wollen diesen Kompositionen gerecht werden - und gleichsam das Zeitlose an dieser Musik herausstellen.

SZaW: Am 10. April beginnt Ihre 70-Städte-Tournee durch Deutschland, Österreich, die Schweiz und die USA.

Raabe: Und der Auftakt war in Los Angeles und in der Carnegie Hall in New York. Aber das klingt jetzt etwas großspurig.

SZaW: Immerhin haben Sie in der ausverkauften Halle vor 2800 Menschen gespielt, die "New York Times" hat den Auftritt als "faszinierend" und "makellos" beschrieben. Spielen Sie in Amerika dasselbe Programm wie hier?

Raabe: Ja. Ich erzähle grundsätzlich vor jedem Lied kurz, wovon es handelt, und im Ausland tue ich das auf Englisch, aber das ist der einzige Unterschied. Es war im Nachhinein schon kühn, dort als Berliner einzureisen und den Leuten ein deutsches Programm vorzuspielen. Aber die Amerikaner haben schnell erkannt, dass wir Humor und Selbstironie haben.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Amy Winehouse Max Raabe perplex macht.

SZaW: Woran eigentlich? Sie bewegen sich auf der Bühne kaum und schauen bei jedem Lied ähnlich ungerührt drein.

Raabe: Ein trauriges Stück muss ja nicht traurig vorgetragen werden. Sondern textverständlich. Ich bin verärgert, wenn mir ein Sänger auf der Bühne durch seinen Gesichtsausdruck erklärt, wie ich zu fühlen habe. Humor entsteht nicht durch Augenrollen, sondern indem man etwas an sich sehr Albernes besonders seriös und mit Würde vorträgt. Man kann einem lieblichen Lied durch die Verzögerung eines Wortes sofort etwas Sarkastisches geben.

SZaW: Ihr Blick schweift beim Singen stets ab ins Nirgendwo. Ist das eigentlich anstrengend, dieses Nicht-Gucken?

Raabe: Es entspricht vollkommen meiner Natur. Ich bin ein träger Mensch, Westfale dazu. Auf die Amerikaner wirken wir einfach sehr deutsch. Und sehr eigentümlich. Eine skurrile, fremde Wirkung haben wir allerdings auf jedes Publikum, egal ob englisch oder deutsch, es braucht immer eine Zeit, bis das Irritiertsein verschwindet.

SZaW: Lieder wie "Ein kleiner grüner Kaktus" oder "Komm, lass uns einen kleinen Rumba tanzen" haben nicht das, was man heute als "Botschaft" bezeichnet.

Raabe: Keine dieser Nummern hat eine.

SZaW: Vermissen Sie die denn manchmal?

Raabe: Nein. Ich selber habe ja auch keine Botschaft. Ich will Menschen ab acht Uhr abends unterhalten. Für zweieinhalb Stunden entreiße ich sie der Realität und schaffe sie in eine Parallelwelt, in der Kakteen vom Balkon fallen und Männer konsequent entweder galant sind oder untreu, aber nichts dazwischen. Meine Zuhörer sollen sich amüsieren. Den Humor dieser Lieder muss man nicht erklären, er ist immer noch da und zündet noch an derselben Stelle wie vor 80 Jahren. Große Gefühle hat man nie wieder so flapsig behandelt wie in dieser Zeit.

SZaW: Das entspricht wohl auch Ihrer Natur? Ironie ist Ihnen angenehmer als Pathos?

Raabe: Ja. Bestimmt sogar. Mit dem Orchester wählen wir oft einen großen, glanzvollen Einstieg. Das macht Spaß, da gehen ja sofort Gefühle los. Aber bevor ich dann pathetisch werde, werde ich automatisch ironisch. Pathos erschlägt, finde ich.

SZaW: Wenn Sie "Du bist nicht die erste" hundert Mal gesungen haben - vermissen Sie beim 101. Mal nicht den tieferen Sinn?

Raabe: Es gibt ihn für mich, aber worin er liegt, ist gar nicht so leicht zu beschreiben. Ich spüre den tieferen Sinn, wenn ich die Komponisten und Texter beim Namen nenne. Die raffinierten Textzeilen und mitreißenden Kompositionen will ich bestmöglich auf die Bühne bringen.

SZaW: Gehen Ihnen diese Lieder denn menschlich, emotional nahe?

Raabe: Ja. Warum, das ist mir erst klar geworden, nachdem ich mich länger damit beschäftigt habe. Es sind eingängige Melodien, heitere Geschichten. Aber in den komischeren Nummern liegt auch eine ganz unterschwellige Traurigkeit, die mit der Instrumentierung zusammenhängt, auch damit, wie die Leute gesungen haben. Eine heitere Nummer, die etwas Trauriges hat: Das berührt mich.

SZaW: Dieser Bruch.

Raabe: Genau. Diese Qualität gab es nur in der kurzen Spanne von den späten Zwanzigern bis zu den frühen Dreißigern. Berlin war die Heimat vieler Komponisten, überhaupt dieser ganzen Stilrichtung. An Berlin hat sich in Deutschland die gesamte Kunstszene orientiert. Auch wenn es in Hamburg oder München adäquate Zirkel gab, war Berlin mit den Revuen des Charell-Ballets und mit den Produktionen im Großen Schauspielhaus unter Max Reinhardt in diesem Genre federführend. 1933 war es damit vorbei, Robert Gilbert, Fritz Rotter, Friedrich Hollaender - alle diese Leute waren Juden und nach '33 nicht mehr da. Wenn sie Glück hatten, schafften sie es aus Deutschland raus, aber viele kamen elendiglich im Konzentrationslager um. Mit ihnen verschwand auch diese Textkultur. Es wurden zwar noch gute Lieder mit schönen Texten geschrieben, aber die waren nicht mehr so frech oder so ironisch. Dieser schwarze Humor ist nie wieder gekommen.

SZaW: Sie wussten immer, dass Sie mit solchen Liedern auftreten wollten?

Raabe: Ja. Als ich das erste Mal in den achtziger Jahren nach Berlin kam und nicht ein einziges Orchester fand, das so spielte, war ich maßlos enttäuscht. Wir waren dann die Ersten, die eines gründeten. Ich wollte einen glanzvoll klingenden Namen, der in diese Zeit passte, und damals war immer alles sofort ein Palast: Kinopalast, Tanzpalast, Admiralspalast, Friedrichstadtpalast. So kamen wir auf Palast Orchester.

SZaW: Was kann man eigentlich zu Ihrer Musik besonders gut tun?

Raabe: Was meinen Sie? Pommes frites essen? Tango tanzen?

SZaW: Was meinen Sie?

Raabe: Zuhören und lachen.

SZaW: Und was geht gar nicht dazu?

Raabe: Man vergisst wahrscheinlich manche Sachen, die man sowieso nicht tun sollte. Telefonieren. Mit Nachbarn reden.

SZaW: Welche zeitgenössische Musik hören Sie?

Raabe: Ich bin zur Zeit ziemlich glücklich, dass so viel Popmusik in unserer Muttersprache aufgeführt wird. Das war vor fünf sechs Jahren noch nicht der Fall. Denken Sie nur an Silbermond, Zweiraumwohnung, Ich und Ich, Wir sind Helden, Fettes Brot . . . Annett Louisan kam mit einem langsamen Walzer in die Charts: auf Deutsch! Phänomenal. Richtig perplex allerdings bin ich bei Amy Winehouse. Die Art der Instrumentierung! Diese Stimme! Die tollen Texte! Was für eine Begabung. Dass solche Talente immer wieder nachwachsen, finde ich erstaunlich. Hoffentlich verglüht sie nicht so schnell wieder.

SZaW: Sie haben selber das eine oder andere Popstück gecovert.

Raabe: Vor sieben Jahren hatten wir die Idee, uns aus den Charts eine Ladung Lieder auszuborgen, die jeder kennt, und die dann in unserem Stil zu beugen.

SZaW: Was waren da Ihre Auswahlkriterien? Wo liegt bei "Sex Bomb" die Ironie, der Zauber der Zweideutigkeit?

Raabe: Es ist nicht so, dass gar nichts dahinter wäre. "Sex Bomb" würdig und im Smoking zu singen, das hat schon etwas sehr Komisches. Und "Oops I did it again" ist einfach ein sehr böses Stück: Hoppala, ich hab dich schon wieder betrogen, ich bin gar nicht so gut, wie man denkt, hoppala, ich hab schon wieder dein Herz zerbrochen . . . Ich muss sagen, dass Fräulein Spears das, was in dem Stück an schwarzem Humor liegt, nicht erkannt und auch verschenkt hat. Ich bilde mir ein, da mehr herausgeholt zu haben. Wir spielen diese Stücke nur noch in Italien oder Russland. Dort waren sie ungemein populär.

SZaW: Der Begriff "Schlagersänger": umschreibt der Sie eigentlich gut?

Raabe: Der Begriff "Schlager" ist natürlich ein bisschen vor die Hunde gegangen. Aber bin ich deswegen Chansonnier? Wenn mich einer fragt, sage ich: Ich bin Schlagersänger. Aber wenn ich mich vorher so jubelnd über deutsche Musik geäußert habe, dann meine ich ganz bestimmt nicht die Paradeschlager, die man manchmal im Taxi hören muss.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Max Raabe gegen seine Eltern rebellierte.

SZaW: Ist da nichts dabei, was in achtzig Jahren reanimiert werden könnte?

Raabe: Nein, das wird mit Popstücken passieren, aber nicht mit den deutschen Schlagern von heute. Das sind traurig verkümmerte Halbschattengewächse. Die aber nun mal ein riesiges Publikum haben.

SZaW: Sie haben auch mal mit Hildegard Knef ein Lied aufgenommen.

Raabe: Ja einige sogar, Stücke von Cole Porter, die sie aus dem Englischen ins Deutsche übertragen hat, und andere, die von ihr selbst stammen, wie "Jene irritierte Auster". Unglaublich toll, was Hildegard Knef an Liedern geschrieben hat!

SZaW: Sie waren ein Fan, als Sie sie trafen?

Raabe: Oh ja. Die Knef lief immer, wenn ich Partys gab.

SZaW: Wie sind Sie, wenn Sie jemandem gegenüberstehen, den Sie bewundern? Schüchtern glühend? Oder gar übersprudelnd?

Raabe: Wenn ich jemanden neu kennenlerne, egal, wer es ist, bin ich sehr zurückhaltend, vorsichtig und freundlich. Das haben Sie vielleicht auch schon bemerkt. Ich kann jemanden sehr mögen, ohne dass man es mir anmerkt. Die Qualität meiner Sympathie leidet nicht darunter, ich kann eben nur aus dieser Art nicht heraus. Ich bin einfach immer gleich.

SZaW: Das provoziert manche Leute sicher.

Raabe: Vielleicht. Ich weiß es nicht. Bei Frau Knef hat meine Zurückhaltung jedenfalls große Irritation ausgelöst. Sie hatte wohl mehr Euphorie und Begeisterung erwartet. Sie war eben eine Diva. Meine Zurückhaltung hat sie als Ignoranz aufgefasst. Erst im Studio hat sich das dann etwas gelegt. Die Arbeit hat großen Spaß gemacht. Und am Ende, als wir gemeinsam auf der Bühne standen, waren wir uns dann richtig sympathisch.

SZaW: Ihre Eltern, Landwirte in Lünen, haben unwissentlich den Grundstein für Ihre große Künstlerkarriere gelegt.

Raabe: Sie besaßen eine einzige Schellackplatte, auf die ich eines Tages stieß. Sie hieß "Ich bin verrückt nach Hilde". Ein heiteres Instrumentalstück, allerdings hatte es, wie mir damals schon schien, auch was Melancholisches. Ich war 13, 14 Jahre.

SZaW: Eigentlich ist in diesem Alter ja das, was die Eltern hören, abzulehnen.

Raabe: Genau das tat ich auch: Meine Eltern haben Operettenplatten gehört und James Last. Und mein Vater sonntags Marschmusik. Diese Schellack-Platte stand ganz vergessen irgendwo dazwischen. Die alten Schlager waren ansonsten nicht verschwunden, viele der Akteure lebten damals ja auch noch, und es gab Radiosendungen, die ihre Musik spielten. Eine hieß "Ein Plattensammler packt aus" und lief donnerstags um 19.30 Uhr. Ich musste um 19 Uhr zum Turnen, also musste jemand aus der Familie meinen Kassettenrecorder auf Aufnahme zu stellen.

SZaW: Sie als Jugendlicher, da stellt man sich einen versonnenen Menschen vor, der andere Platten hört als die anderen, auch anders aussieht. Waren Sie ein Sonderling?

Raabe: Ich war kein Sonderling und wollte keiner sein, ich war wie ich war und mittendrin. Ich habe zwar keine Pop-Platten gehabt, aber ich kannte Sachen wie Jethro Tull von meinem Bruder. Ich und mein Freundeskreis haben schon damals viel Big Band-Musik gehört, Jazz-Solisten, Karl Fontana, Four Freshmen, Herbolzheimer war so ein Thema . . . Diesen Freundeskreis habe ich immer noch. Heute sagen alle: Du hast dich im Grunde gar nicht verändert, du warst schon immer so konsequent mit Musik beschäftigt.

SZaW: Sie sind nie in schlechte Gesellschaft oder in Drogenorgien geraten? Es waren immerhin die Siebziger.

Raabe: In unserer Gegend konnte man gar nicht in schlechte Gesellschaft geraten, da war nichts. Oder ich war zu doof, es zu erkennen. Mein Bruder hat heimlich geraucht, das war's auch schon. Wie alle in unserer Gegend waren wir katholisch, vor dem Essen und Schlafen wurde gebetet, sonntags ging es in die Kirche. Ich war ein fleißiger Messdiener, in der Gemeinde aktiv, bei den Pfadfindern, fuhr auf Jugendfreizeiten. Ich war auch im Kinderchor, bei Bunten Abenden - und auf Jahresfeiern habe ich vorgesungen. Aber kein Mensch, am wenigsten ich, ist damals auf die Idee gekommen, dass das mal zu meinem Beruf werden würde.

SZaW: Ihr Lieblingsbuch ist "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz. Ein Sturm-und Drang-Roman. Er hat viele Parallelen zu Ihrem Leben, Herr Raabe ...

Raabe: ... ja, ich habe mich darin wiedererkannt. Er handelt von einem um Anerkennung bemühten Jungen aus der westfälischen Provinz, der die pietistische Welt seiner Eltern als kleinbürgerlich, bedrückend und eng empfindet, und der sein Glück in der Stadt auf der Theaterbühne versucht. Anders als Reiser hatte ich keine unglückliche Kindheit. Aber das Gefühl der Enge in der Gefühlswelt, auch so eine bestimmte Form der Eitelkeit, das kannte ich.

SZaW: Wann wussten Sie denn, dass Sie Sänger werden wollen?

Raabe: Mit 17, 18, 19 Jahren haben ich nur noch Schubert-Lieder gehört. '86 bin ich nach Berlin gegangen und habe viermal die Woche abends Gesangsunterricht genommen. Tagsüber habe ich in Gärtnereien gearbeitet oder Hausflure gewischt. Ich flog überall raus. Hatte ich es eingangs erwähnt? Ich bin sehr träge! Aber ich habe nie Arbeitslosengeld bezogen, nur sehr bescheiden gelebt.

SZaW: Das ging damals in Berlin wahrscheinlich sogar noch besser als heute, oder?

Raabe: Absolut. Meine Wohnung in Neukölln hat 110 Mark gekostet. In den Urlaub bin ich nach Italien gefahren, für eine Woche mit nur 30 Mark und Rei in der Tube im Gepäck. Ich habe unter freiem Himmel übernachtet, morgens meinen Rucksack versteckt und bin dann in Sakko, Hemd und geputzten Schuhen in die Stadt gegangen. Ich wollte nie abgerissen oder wie ein Tourist aussehen. Jeden Abend traf ich verrückte Leute. Ich bin von italienischen Familien rangefüttert worden wie ein seltener Vogel, habe tolle Abenteuer erlebt, auch amouröser Natur. So bin ich von Florenz bis Assisi gewandert.

SZaW: Waren Sie glücklich?

Raabe: Der glücklichste Mensch, den man sich denken kann.

Seit 2007 sind Sie der Kulturpreisträger Ihrer Heimatstadt Lünen.

Raabe: Ja.

SZaW: War das eine Genugtuung? Seht her, ich bin ausgezogen und habe geschafft, woran hier keiner geglaubt hat?

Raabe: Wenn ich lange komplett erfolglos und unbekannt gewesen wäre, dann vielleicht. Aber die zu Hause haben ja mitgekriegt, was mit mir passierte. Ich musste auch nichts beweisen, keine alten Rechnungen begleichen. Vielmehr war ich wahnsinnig verlegen.

SZaW: Hängen heute in Lünen in jedem Kiosk Bilder mit Ihrer Unterschrift?

Raabe: Die findet man vielleicht eher noch in Hamburger Würstchenbuden oder Münchner Wäschereien.

SZaW: Sind die Lünener denn nicht wahnsinnig stolz auf Sie?

Raabe: Ach, wir Westfalen sind eher nicht so wahnsinnig stolz auf irgendetwas.

SZaW: Aber was ist mit der Carnegie Hall?

Raabe: Meine Mutter kannte die Carnegie Hall gar nicht. Meine Eltern haben schon argwöhnisch betrachtet, dass ich die Künstlerlaufbahn eingeschlagen habe. Und dann geht der Junge noch nach Berlin . . .

SZaW: ... zu den Kriegsdienstverweigerern . . .

Raabe: ... das kann doch nicht gutgehen. Die Lünener machen heute kein großes Aufhebens, meine Eltern noch weniger. Die Haltung ist: Der soll mal gar nicht glauben, dass er so was Besonderes ist. Und das ist so herum auch besser.

Max Raabe wurde am 12. Dezember 1962 im westfälischen Lünen geboren; seinen Geburtsnamen Matthias Otto hat er abgelegt. 1986 ging er nach Berlin, um Sänger zu werden. Er gründete das Palast Orchester und trat auf kleinen Bühnen auf. Parallel ließ er sich an der Hochschule zum Opernsänger (Bariton) ausbilden. Seinen Durchbruch hatte er 1992 mit der Eigenkomposition "Kein Schwein ruft mich an". Marilyn Manson wünschte sich und bekam Max Raabe und sein zwölfköpfiges Orchester als Hochzeitskapelle für seine Trauung mit Dita von Teese. Mittlerweile spielt Raabe nicht nur in Deutschland vor ausverkauften Häusern, sondern auch in Japan, Russland und Amerika. Am 11.April 2008 erscheint das neue Album, ein Konzert-Mitschnitt namens "Heute Nacht oder nie - Das Carnegie Hall Konzert." Raabe lebt in Berlin.

© SZaW vom 05./06.04.2008/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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