Über dieses Buch zu schreiben, ist wie Musik zu schmecken oder Parfums zu malen. Alle Sinne sind gefragt, die trainierten und die verkümmerten. Um eine Ahnung davon zu bekommen, was den Leser in Max Porters zweitem Roman erwartet, hilft vielleicht ein Gedankenspiel: Man möge sich die Zeilen dieses Textes geschwungen vorstellen, gestaucht und gedehnt, buchstabentaumelnd. Das Rascheln der Zeitung im Ohr, das iPad-Tappen, Druckerschwärze an den Fingern, Klicklicklick.
"Lanny" (aus dem Englischen von Uda Strätling und Matthias Göritz) ist anders als das meiste, das in mehreren Sprachen um die Welt geht. Das beginnt mit dem Formalen, das Satzbögen und Fettgedrucktes ebenso einschließt wie twitterähnliche Kurzparagrafen mit Perspektivwechseln im Ping-Pong-Takt. Wer sich davon nicht irritieren lässt und den Kurven auf den ersten Seiten folgt, taucht immer tiefer in eine erdfrische Geschichte ein, in den Geruch von Bluteisen, den Geschmack von Mooswasser und, tatsächlich, so etwas wie eine universelle Verbundenheit.
Wer da zunächst in Erscheinung tritt in dieser Familiengeschichte in einem Dorf bei London, ist Altvater Schuppenwurz (im Original: Dead Papa Toothwort). Altvater wer? Nicht nur bei der Form, auch beim Personal fordert einen Porter, Jahrgang 1981, von Beginn an heraus. "Altvater Schuppenwurz wacht aus dem Stand weitflächig auf, streift pechdunkle Traumreste ab, die glitzern vor feuchten Kehrichtklumpen. Er legt sich hin, um Erdhymnen zu hören (es gibt keine, also summt er), dann schrumpft er, schlitzt sich mit einer rostigen Dosenlasche einen Mund, saugt eine nasse Haut aus saurem Mulch und saftigen Würmern an." So beginnt der 220-Seiten-Roman, das muss man sich erst mal trauen: einem mythischen Gestaltenwandler den Vortritt zu lassen, der lauscht und beobachtet, die staunenden Naturverbundenen suchend, bevor er sich aufrafft "zu einer Jahrhundertanstrengung", wie es später heißt.
Der Kosmos der Geschichte ist ein abgelegenes Dorf in der Nähe von London, mit Wäldern und Sagen, mit schrulligen Bewohnern und Altvater Schuppenwurz, der hier als Statue in einem Labyrinth, in Gemeindeausstellungen und Erzählungen der Alten zugegen ist. Das Buch handelt von Lanny, dem wunderlichen Jungen eines ehemaligen Städter-Pärchens. Lanny, der zweite Protagonist neben Schuppenwurz, redet in der Nacht mit den Wurzeln einer Eiche, malt mit Kohle Pflanzen, stimmt kryptische Lieder und Fragen an wie diese: "Was meinst du, was geduldiger ist, eine Idee oder eine Hoffnung?" Andere Antworten kennt er selbst: "Wir sind kleine eingebildete Blitze in einem großen, prächtigen Plan." Der Plan des englischen Schriftstellers Max Porter war es, diesen hypersensiblen wie klugen Außenseiter verschwinden zu lassen, das Dorf und die Medien in Aufruhr zu versetzen, und in der Angst um den Jungen die Bedeutung des Altvaters herauszustellen, den niemand (höchstens Lanny) fassen und verstehen kann. So ist das Buch eine wundersam wispernde Erdhymne auf das, was der Mensch nie ganz entschlüsseln wird, auf den Einklang mit der Natur, das Unsichtbare, das Spirituelle um uns herum.
Der Engländer Max Porter, 1981 in High Wycombe geboren, ist ebenfalls mit seiner Familie aus London weggezogen, ins überschaubarere Bath. Die Stadt-Land-Thematik hat der ehemalige Buchhändler und Lektor ebenso verarbeitet wie die permanenten Sorgen von Eltern um ihr Kind. Bereits in seinem Debüt, der 2015 erschienenen, mit dem Dylan-Thomas-Preis ausgezeichneten Novelle "Trauer ist das Ding mit Federn", hat er dunkelster Tragik erhellende Komik abgerungen.
Kam das Surreale in seiner Fabel damals noch in Gestalt einer Riesenkrähe als Trauerbegleiter daher, so ist es in "Lanny" das traumwandlerische Ende, die Überlagerung der Wirklichkeiten, die Porter zum fantastischen Fantasten macht. Schon damals trieb er seine Geschichte in kurzen Kapiteln mit diversen Ich- und Wir-Erzählern voran, der Poesie stets ein paar Buchstaben näher als der Prosa.
In "Lanny", dem schwierigen zweiten Buch, steigert er seine Experimentierfreude. Der Roman besteht aus drei Teilen mit sehr unterschiedlichen Perspektiven. Porter erfindet das Erzählrad nicht neu, dreht aber kräftig daran. Rhythmisch, fließend, mal hierhin, mal dorthin. In der Exposition berichten Lannys Mum, Lannys Dad und Pete, ein eigenbrötlerischer Künstler, der den Jungen unterrichtet. In diese Abfolge der Ich-Stimmen schiebt sich das Erwachen von Schuppenwurz, erzählt in der dritten Person. Die Stimmen im Dorf, denen die mythische Sagengestalt (benannt nach einem Sommerwurzgewächs) lauscht, sind Phrasen, Alltagssätze, Kluges, Belangloses. Ein Wispern und Dauerrauschen, optisch dargestellt in ebenjenen tänzelnden Wörterbögen. Die Verspieltheit des Autors ist keine Macke, sie trägt seinen Stoffen Rechnung. Das gilt auch für den zweiten Teil des Romans. Hier überträgt er das gesellschaftliche Gebrabbel in das Social-Media-Zeitalter, indem er grafisch abgegrenzte Texthäppchen aneinanderreiht, um Lannys Verschwinden und die Suche nach ihm aus multiplen Sichtweisen abzubilden.
Dutzende Ichs machen deutlich, was sich in der Krise vermengt: Betroffenheit und Mitgefühl, Zweifel und Neid, Hass und Hohn. Willkommen in der Timeline hysterischer Zeiten. Bei alledem erweist sich Max Porter als feiner Stilist und Prosapoet. Einzelne Kapitel sind Gedichte für sich, hier wie da sprießen Sätze, die rhythmisch verwehen, wenn sie nicht ohnehin noch bleiben. "Und da trieb das Wort Lanny im Geäst des Abends Blüten. Das Wort Lanny rankte abweichend und anormal in alle Richtungen."
Max Porter ist ein Meister im Verdichten, gern komponiert er bachplätschernde Wörtermelodien: "Lanny tanzt herein, singend, nach freier Natur riechend." Womöglich kultiviert dieser aufregende Autor, was im Gequatsche unserer Zeit mehr denn je als Kunst erscheint: die Schönheit auch zwischen den Zeilen, und den Duft, den Klang, den Geschmack, die damit einhergehen.
Max Porter: Lanny. Roman. Aus dem Englischen von Uda Strätling und Matthias Göritz. Kein & Aber Verlag, Zürich 2019. 224 Seiten, 22 Euro.