Holocaust-Comic im Lehrplan:"Warum fördert das Erziehungssystem dieses Zeug?"

Holocaust-Comic im Lehrplan: "Ich habe mich jetzt nach totaler Verblüffung durchgerungen dazu, zu versuchen, tolerant gegenüber Leuten zu sein, die ja vielleicht doch keine Nazis sind." - Art Spiegelman.

"Ich habe mich jetzt nach totaler Verblüffung durchgerungen dazu, zu versuchen, tolerant gegenüber Leuten zu sein, die ja vielleicht doch keine Nazis sind." - Art Spiegelman.

(Foto: Mark Sagliocco/Getty Images/AFP)

Ein amerikanischer Schulbezirk hat Art Spiegelmans weltberühmten Holocaust-Comic "Maus" aus dem Lehrplan gestrichen. Über einen verstörenden Fall.

Von Jens-Christian Rabe

Immer wenn man denkt, dass jetzt ausnahmsweise kurz mal keinem etwas genuin Behämmertes einfällt, ist es doch schon wieder so weit: Der Schulbezirk von McMinn County im US-Bundesstaat Tennessee hat Art Spiegelmans weltberühmten Comic "Maus" über das Schicksal eines jüdischen Ehepaars während der NS-Zeit aus dem Lehrplan der achten Klasse gestrichen.

Mike Cochran, Mitglied des Schulausschusses, hält "Maus" für ein Mittel der "Indoktrination" und begründete die Streichung mit den Worten: "Wir brauchen dieses Zeug nicht, um Kindern Geschichte beizubringen." Ausschuss-Mitglied Tony Allman sagte: "Es werden erhängte Menschen gezeigt, und Menschen, die Kinder umbringen. Warum fördert das Erziehungssystem dieses Zeug? Es ist nicht weise und nicht gesund." Laut Sitzungsprotokoll störte sich der Ausschuss an "grober und anstößiger Sprache" im Comic, etwa dem Wort "bitch". Zudem sei ein Suizid zu "verstörend" dargestellt für 13-Jährige.

Bei Amazon steht der Comic derzeit auf dem zweiten Platz, gute alte List der Vernunft

Tatsächlich verstörend ist - abgesehen davon, dass es derart große Kunst offenbar überhaupt ins Curriculum einer Middle School geschafft hat, worauf man nicht zwingend gewettet hätte - natürlich nicht das Werk, sondern seine Verbannung in Tennessee. In "Maus", das 1986 erstmals erschien und 1992 mit dem hochangesehenen Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, verarbeitet Spiegelman die grausamen Erlebnisse seiner Eltern, polnischer Juden, in deutschen Konzentrationslagern, die Belastung des Familienlebens danach und den späteren Suizid seiner Mutter.

Das Holocaust-Museum in Washington reagierte auf Twitter mit dem Hinweis, dass es den Comic für ein "wichtiges Instrument zur Geschichtsaufklärung" halte, das Schülerinnen und Schüler helfe, "kritisch über die Vergangenheit und ihre eigene Rolle und Verantwortung heute nachzudenken".

Holocaust-Comic im Lehrplan: Klassiker der Aufklärung über die Naziverbrechen: Cover der amerikanischen Originalausgabe von "Maus".

Klassiker der Aufklärung über die Naziverbrechen: Cover der amerikanischen Originalausgabe von "Maus".

(Foto: Maro Siranosian/AFP)

All das ist also in Zukunft in McMinn County nicht mehr gewünscht. Der 73-jährige Künstler zeigte sich im Interview mit dem Fernsehsender CNN entsprechend erschrocken: "Ich habe mich jetzt nach totaler Verblüffung durchgerungen dazu, zu versuchen, tolerant gegenüber Leuten zu sein, die ja vielleicht doch keine Nazis sind." Der feine Unterschied zwischen Anstößen und Anstößigkeit dürfte den zehn Mitgliedern des Schulausschusses allerdings nur allzu bewusst gewesen sein. Für Beobachter ist der Fall "Maus" nur das jüngste Beispiel dafür, wie reaktionäre Kräfte in den USA versuchen, Bücher, die Sklaverei, Rassismus oder LGBTQ-Themen verhandeln, aus Schulen und Bibliotheken zu entfernen.

Ein Gutes hat die Sache immerhin, weil das Verbieten Dinge ja doch immer nur interessanter macht: In der Rangliste der bei Amazon meistverkauften Bücher stand "Maus" umgehend weit oben, derzeit - Stand Dienstagnachmittag - belegen verschiedene Ausgaben des Comics vier Plätze in den Top 15. Unter anderem den zweiten und den dritten Platz. Gute alte List der Vernunft.

Apropos: Was ist eigentlich mit den deutschen Lehrplänen und "Maus"? Kleiner Ausflug zum Internet-Portal lesen.bayern.de des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) des bayerischen Kultusministeriums. Dort wird, nebst ausführlichen "didaktischen Hinweisen", "Maus" als Schullektüre empfohlen. In der kleinen Besprechung heißt es: "Die wahre Geschichte mit manchmal schockierenden Bildern ist als Tierfabel aufgebaut (...) Durch die Tiermetapher gelingt es Spiegelman, einen gewissen Abstand zum erzählten (und undarstellbaren) Grauen zu wahren. Zugleich reagiert diese Metapher auch auf Tiermetaphern des Nationalsozialismus, indem sie die Rede vom Ungeziefer in ihr Gegenteil verkehrt und ihren unmenschlichen und schrecklichen Charakter offenbart. Die dokumentarisch genaue, authentische und erschütternde Geschichte vom Schicksal polnischer Juden während des Holocaust darf mit Fug und Recht als Klassiker bezeichnet werden und darf nach wie vor in keinem Comic- (bzw. Geschichts-) Grundbestand fehlen."

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