Süddeutsche Zeitung

Klassik:Auferstehung aus den Splittern

Lydia Steier, die neue Operndirektorin in Luzern, inszeniert Mauricio Kagels "Staatstheater" - als wahren Segen.

Von Egbert Tholl

Als Mauricio Kagels "Staatstheater" 1971 an der Staatsoper Hamburg herauskam, stellte der Rezensent der Uraufführung in dieser Zeitung die Frage: Welches Musiktheater wollt ihr? Damals waren sich weite Teile des Publikums einig, dass das eben Gesehene nicht dazugehöre. Der SZ-Kritiker, es war Ivan Nagel, war ein Jahr später Intendant des Hamburger Schauspielhauses, die Opernwelt indes war von Kagels "szenischer Komposition" nachhaltig erschüttert. Denn darin gibt es viel Musik, aber sie kommt meist in fragmentierter Gestalt vom Band oder von lärmenden Instrumenten, es gibt Gesang, aber nichts zu verstehen, es wird nichts erzählt und doch ist "Staatstheater" in überbordender Fülle die ganze Welt der Oper. Diese Fülle brachte nun Lydia Steier am Luzerner Theater, wo sie die neue Operndirektorin ist, in Kooperation mit dem Lucerne Festival auf die Bühne und in die Stadt.

Vor 50 Jahren hatte "Staatstheater" eine andere Notwendigkeit als heute, aber notwendig ist es geblieben. Damals war es die erste Staatstheateraktion, die die Institution Oper grundsätzlich in Frage stellte, die ihre verkrustete Sprache aufbrach und eine neue erfand, die also das nachholte, was damals in den anderen Künsten schon längst, wenn nicht Mainstream, so doch Usus war. Aber die Oper ist ein schwerfälliges Ding, da dauert alles ein bisschen länger.

Mit einer spanischen Karfreitagsprozession zieht die Inszenierung von der Oper in die Kirche

Die ästhetische Diskussion, inwieweit Oper in der Tradition festhängt, führen inzwischen längst Komponisten und die Regieführenden, die in alten Werken nach neuen Geschichten suchen. Aber noch immer wird man nervös, wenn etwa ein Dirigent die Partitur erweitert oder radikal kürzt - die Werkgestalt ist vielen immer noch heilig. 1971 unterlief dies Kagel, indem er einen in neun Abteilungen gegliederten, riesigen Fundus schuf, aus dem man frei wählen kann, wichtig ist nur: Die Aufführung soll nicht länger als 105 Minuten dauern. Daran hält sich Steier nur bedingt, denn nach etwa 90 fabelhaften Minuten im Luzerner Theater geht es nach draußen und mit einer spanischen Karfreitagsprozession und spitzhütigem Mummenschanz zur Franziskanerkirche, wo in einer etwas langatmigen Aktion erst das Opernhaus, dargereicht als kleines Modell wie eine Hostie, seinen Segen erhält und dann ein wüstes Treiben anhebt. Es kündet von den Wurzeln des Theaters, will, in einer Kirche - Theater und Gottesdienst waren schon immer nahe beieinander - die Ahnung eines dionysischen Rauschs vermitteln, inklusive antiken Masken, dröhnender Blechmusik und einem irren Geflecht ekstatischer Vokalisen.

Zuvor, im Theater, zeigt Steier erst einmal in Kurzvideos 19 lebende Bilder, assoziative Splitter aus Kagels "Repertoire"-Abteilung, live übertragen aus drei Containern in der Stadt, die als Sound in die Filme hineindiffundiert. Die Klänge und Bilder sind gleichermaßen, Camp und Kitsch, besitzen einen wundervoll lakonischen Humor und greifen auch zeitgenössische Diskussionen von Rollenbildern auf: Eine wie eine ägyptische Prinzessin wirkende Dame pfeift zwei Diener in Leopardenhöschen herbei, ein Wesen in rotem Lack schlüpft aus einem Kokon, zwei Mariachi ziehen fröhlich vorbei und drei Nonnen wie viele weitere Figuren machen Unsinn.

Dann verschwindet die Leinwand, und die Aufführung dringt in ihren Kern vor. Bei Kagel heißt das, was kommt, "Ensemble" und "Saison", und tatsächlich ist man nun mitten im Betrieb, der Oper herstellen will. Lydia Steuer, bekannt als außerordentliche einfallsreiche Bildererfinderin, nutzt Kagels Fundus und die Gelegenheit der Saisoneröffnung auch dazu, das ganze Haus vorzustellen, Tanz, Oper, Schauspiel, das Sinfonieorchester vom Band und das Ensemble fürs Zeitgenössische vom Lucerne Festival live. Alles, was hier an fundamentalem, freundlichem Irrsinn von absolut furchtlosen und hochpräzisen Akteuren ausgebreitet wird, schlägt Kagel im Prinzip vor, kleiner Ausschnitt: Lohengrin, hier begleitet von zwei selbstfahrenden Schwanenkindern; Hamlet, der sich im Text verheddert; "Schwanensee" als aberwitziger Pas de deux; barocke, sinnlose Koloraturen in einem prächtigen Barocksetting; diverse Operntode und viel Liebesleid; der musikalische Leiter Stefan Schreiber, der bei der Einstudierung sehr viel, in der Aufführung aber sehr wenig zu tun hat, spielt Falstaff und grillt Würste.

Die Chiffren der tradierten Oper werden von Steier liebevoll und sehr witzig ausgebreitet. Hierin erweist sich die Notwendigkeit von "Staatstheater" heute: Es ist eine Hommage an die hier zu erschaffende Welt, deren Existenz noch nie so in Frage gestellt wurde wie in den vergangenen eineinhalb Jahren der Pandemie. Aus Kagels Fundus heraus feiert diese Welt ihre Auferstehung. Und zwar völlig neu!

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