Zum Schluss plätschert der Applaus von den Rängen und verläppert sich in der Weite des Areals. War es das? Das Ensemble hat auf dem Rasen Aufstellung genommen wie eine Fußballmannschaft, die gleich die Nationalhymne zu singen anhebt. Aber chorisches Singen ist in Corona-Zeiten ebenso wenig angesagt wie ein Trikot-Tausch der Spieler, und, nein, es kommt auch nicht Kapitän Matthias Lilienthal auf den Platz, um sich feiern zu lassen. Und so tröpfelt Lilienthals Münchner Intendanz eher leise und bedächtig aus, ohne Triumphgetue, ohne Winkewinke und Bussibussi. Das Finale wirkt umso kleiner, als es sich in den Dimensionen eines Amphitheaters auf der Riesenbühne eines Fußballstadions vollzieht, fast möchte man sagen: verliert. Aber dieses Verschwinden im Raum - und nicht zuletzt: in der coronalen Faktizität - ist als Bild eigentlich ganz schön.
Nach fünfjähriger Intendanz an den Münchner Kammerspielen mit etlichen Tiefen und dann auch Höhen ist Matthias Lilienthal zwar nicht im Olymp, aber immerhin im Olympiastadion angekommen. In dieser spektakulären Zeltdach-Arena, erbaut für die Olympischen Spiele 1972, gedacht für 70 000 Zuschauer, nun besetzt mit gerade mal 400, klingt bescheiden aus, was als großes Abschiedsspektakel geplant war. Ein 24-Stunden-Marathon per Bus durch die Stadt unter dem Titel "Olympia 2666" hätte es werden sollen, inszeniert von zehn Regisseuren auf Grundlage des Romans "2666" von Roberto Bolaño (SZ vom 10. Juli). Ein Riesentheaterding wie damals, 2012, als Lilienthal seinen Abschied vom Berliner HAU, dem Theater Hebbel am Ufer, feierte "wie die Queen ihr Thronjubiläum" (so ein Berliner Stadtmagazin), ebenfalls mit einer 24-Stunden-Tour durch ein umfangreiches Romanwerk, damals "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace.
Lilienthal, in Berlin gefeiert wie ein König, hatte sein HAU-Rezept von Anfang an allzu paternalistisch auf München übertragen: das Theater als Durchlauferhitzer. Die üppige Bespielung einer soziokulturellen Plattform für Performances, Gastspiele, Diskurs- und Hybridformate, als seien die Kammerspiele ein freies Produktionshaus und nicht ein Sprechtheater mit großartiger Tradition. Dass das nicht reibungsfrei aufgehen konnte, hätte ihm und allen klar sein müssen. Jede Stadt, jedes Haus tickt anders. Man muss sich sensibel darauf einlassen, sich ein Stück weit auch selber neu erfinden, so wie in jeder neuen Beziehung.
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Die Chuzpe, mit der Lilienthal als Berliner Global Player meinte, die Münchner von den Bäumen holen und zum Beispiel gleich am Anfang mit "Shabbyshabby Apartments" auf die Mietsituation in ihrer Stadt hinweisen zu müssen, konnte als Arroganz empfunden werden. Was umso schwerer wog, als bei der "Hybridisierung" aus Repertoiretheater und freier Szene anfangs eine derartige Schlampigkeit, bisweilen auch ein Dilettantismus im Umgang mit dem Haus, mit Stücken und Menschen obwaltete, dass es zu einer heftigen Zuschauer- und Qualitätskrise kam.
Mit "Dionysos Stadt" kam die Wende, mit Corona nun sehr abrupt das Ende
Lilienthal und München, das war keine Liebesgeschichte. Man hat sich missverstanden, aneinander gestoßen und sich schließlich doch zusammengerauft, ja, angefreundet. Erkenntnis- und Lerneffekte auf beiden Seiten. Den Wendepunkt markierte im Oktober 2018 Christopher Rüpings Antiken-Marathon "Dionysos Stadt" - eine gefeierte Inszenierung, die das bot, was Lilienthal früher gerne als "Kunstkacke" abtat: Theater aus dem Vollen, lustvolles Schauspiel in Auseinandersetzung mit einem überlieferten Stoff. Spätestens da schien das Eis in der Stadt gebrochen. Bei der Theatertreffen-Jury war Lilienthal ohnehin ein Liebling, und auch ein junges Publikum zog er zunehmend an. 2019 wurden die Kammerspiele "Theater des Jahres". Die Auslastung lag zuletzt bei 85 Prozent.
Dass das Ende nun so abrupt wirkt, liegt zum einen an Lilienthals Weggang nach lediglich einer Amtszeit. Als die CSU 2018 seinen Vertrag nicht verlängern wollte, warf er sich nicht etwa mit Unterstützung von SPD und Grünen in die Bresche, sondern nahm von selber den Hut. Seither strickt er an dem Narrativ, zu fortschrittlich gewesen zu sein für das konservative München. Zu guter Letzt hat Corona das sich abzeichnende Happy End vermasselt. Das ist bitter. Und doch liegt keine Bitterkeit über dem Ersatzfinale im Stadion. Die stundenkurze Abschiedsdarbietung heißt denn auch nicht "Schlusszeremonie", sondern "Opening Ceremony".
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Die CSU will nicht, dass die Münchner Kammerspiele an einer Demo teilnehmen. Aber städtische Kultureinrichtungen sind keineswegs zur Neutralität verpflichtet.
Für die Inszenierung wurde der Japaner Toshiki Okada eingeflogen, bekannt für seine sehr spezielle Körperchoreografie. Sein Beitrag zum geplatzten "Olympia 2666"-Spektakel wäre just eine Szene im VIP-Bereich des Olympiastadions gewesen, weshalb er gebeten wurde, daraus binnen fünf Tagen mit dem Ensemble etwas Neues zu machen. Es beginnt mit den "Hallo!"-Rufen einer Frau, die man zunächst gar nicht orten kann. Die Zuschauer sitzen verteilt auf zwei Blöcke im überdachten Teil dieses, wie man zweifellos sieht, weltschönsten Stadions - mit Blick auf den Olympiaturm, die leere Arena, die Ränge gegenüber. Der Ort selbst ist schon das Ereignis. The place is the party. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen, da ist es egal, dass der Text, wie immer bei Okada, ein bisschen krude und banal ist.
Das Ganze hat eine wehe Poesie. Die rufende Frau macht man schließlich rechts oben auf Frei Ottos grandiosem Zeltdach aus, von wo sie sich, weil sie angeblich dringend aufs Klo muss, an einem Drahtseil auf die andere Seite des Stadions schwingt, mit flatterndem gelbem Schal. Eine Superwoman. Es ist die Schauspielerin Julia Riedler, die sich bei Lilienthal mit ihrer robusten Art und ihrer Superröhre in die vorderste Riege gespielt hat. Sie wird am Haus bleiben, so wie elf weitere Kollegen, die Lilienthals Nachfolgerin Barbara Mundel in ihr Ensemble übernimmt. Das sind erstaunlich viele. So können sie etwas fortsetzen und womöglich ihre "Samen ausbreiten" wie die Bienen und Insekten, von denen sie in ihrer "Opening Ceremony" so anspielungsreich reden.
Gekleidet wie Gärtner, gießen und pflegen sie den Stadionrasen, um ihn im "Standby-Modus" zu halten. Denn irgendwann soll es stattfinden, das "globale Event", von dem hier ständig die Rede ist. Vordergründig scheint es um die Olympischen Spiele 2020 in Tokio zu gehen, die wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben wurden. Aber viele Andeutungen lassen sich auch auf die Theatersituation beziehen, und der Super-Mario, von dem sie so bewundernd sprechen, ist das vielleicht ihr Held Matthias Lilienthal? "Alle Pannen dieser Welt repariert Mario", lassen sie die Zuschauer skandieren. Und wenn Samouil Stoyanov tatsächlich als comichafter Nintendo-Held Mario im Klempner-Look auf einem Bobbycar daherkurvt, verspricht er großmäulig: " Everything is gonna be alright!" Na dann.
Nachkarteln will anschließend bei Japan-Food und Bier niemand mehr
Viele Ensemblemitglieder erkennt man gar nicht im Weit der Arena. Die meisten bleiben Statisten im Gießkannenballett, andere, wie Damian Rebgetz, kriegen einen größeren Auftritt. Der australische Performer erinnert mitten auf dem Feld an vergangene Krisentage ("Die Zeit war aus den Fugen. Es war schrecklich. Everything was a terrible mess"), um schließlich aber zu verkünden: "Der Wiederaufbau ist vollendet." Annette Paulmann, seit 2002 am Haus, obliegt es, die "Kleesamen" ins Spiel zu bringen, die, ausgesät auf dem Rasen, jenes Bienen-Biotop ergeben, aus dem sich vielfältigster Honig saugen lasse. Mit solchen Metaphern wird auf ein niedrigschwelliges Programm von Diversität, Internationalität und freiem Austausch von "Überträgern" angespielt, wie Lilienthal es für sein Theater entwarf. "Vielleicht ist Mario ja der Name einer ganzes Spezies", sagt die wiedergekehrte Julia Riedler gegen Ende und trägt ein rotes T-Shirt, Lilienthals Lieblingskleidungsstück . Die Botschaft ist klar: Sie werden seine Theatersamen weitertragen, auf dass sein Münchner Ende doch zu einem "Opening" werde. Dass währenddessen am zuvor trüben Himmel die Sonne aufgeht und das Stadion in ein herrliches Abendlicht taucht, erzeugt eine versöhnliche Stimmung, fast wie von oben verordnet.
Nachkarteln oder gar streiten will anschließend bei Japan-Food und Bier niemand mehr. Diskutiert, gelitten und gestritten wurde in den fünf Jahren Lilienthal genug. Der Münchner Kulturreferent Anton Biebl erinnert an die lebhaften Auseinandersetzungen während der Intendanz. Lilienthal habe jedoch die Liebe und Anerkennung des Publikums gewonnen. "Du hast uns ein Theater geschenkt, das es hier noch nie gegeben hat", so Biebl zu Lilienthal. Dieser macht keine großen Worte, sagt nur "Leute, esst und trinkt!" - und freut sich diebisch, dass er in so mildem Licht davonkommt. Schaut nicht so aus, als würde er München, der Stadt, mit der er nie so richtig warm wurde, nachtrauern. Umgekehrt könnte es sein, dass ihn mehr Leute vermissen, als man anfangs je hätte glauben wollen.