Matthias Jüglers Roman "Die Verlassenen":Glaube deinen Symptomen

Mathhias Jügler // Random House ©Melina Mörsdorf Photography

Matthias Jügler, 1984 in Halle (Saale) geboren, studierte unter anderem am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. "Die Verlassenen" ist sein zweiter Roman.

(Foto: Melina Mörsdorf/Melina Mörsdorf)

Die Nachgeborenen melden sich zu Wort: In Matthias Jüglers Roman "Die Verlassenen" kommt der Erzähler der Stasigeschichte seiner Eltern auf die Spur.

Von Felix Stephan

Wenn Kinder in deutschen Romanen rätselhafte Symptome aufweisen, ist meistens was mit der Vergangenheit. Darauf kommen die Ärzte natürlich nicht. In "Die Verlassenen", dem neuen Roman des 1984 in Halle (Saale) geborenen Schriftstellers Matthias Jügler, wird der Erzähler einmal geradeheraus von einem Arzt gefragt, ob er simuliere, nachdem Pfeiffersches Drüsenfieber und Multiple Sklerose ausgeschlossen wurden, er aber trotzdem noch diese rätselhafte Abgeschlagenheit hat.

Häufig kommt dann bald raus, dass der Vater/Onkel/Großvater in Russland Schuld auf sich geladen hat und dass diese Schuld über die Nervenenden des Sprösslings jetzt ihren Weg zur Sühne sucht. Oder es gibt ein geheimes Kind im Ural. Oder aber es verhält sich wie beim schwedischen "Uppgivenhetssyndrom", dem Resignationssyndrom, das seit 2003 in Schweden Hunderte Kinder erfasst hat und das ausschließlich in Familien von Geflüchteten vorkommt, denen nach Jahren der Aufenthaltsstatus entzogen wurde.

Die Kinder schlafen ununterbrochen und noch sind keine organischen Ursachen festgestellt worden. Weil das Syndrom ausschließlich in Familien aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, bei Jesiden und Uiguren auftritt, nicht aber unter Geflüchteten aus anderen Erdteilen, geht man davon aus, dass es mit einer spezifischen Kombination aus Kriegs-, Vertreibungs- und Asylverweigerungserfahrungen zu tun haben muss.

Der Roman markiert einen Einschnitt, er eröffnet eine Diskussion

So ein Resignationssyndrom erfasst auch Jüglers Ich-Erzähler, der nach dem Ende der DDR ohne Eltern bei der Großmutter in Halle aufwächst. Die Mutter ist tot, der Vater verschwunden, ein großes Geheimnis wirft seine Schatten voraus. Eines Tages trifft ein Brief ein und alles kommt ans Licht. Die tragische Schicksalhaftigkeit des Romans hat leider etwas Aufdringliches, die Sprache ist seltsam ungelenk, immer wieder "widerfährt" dem Erzähler "derlei" "des Öfteren".

Matthias Jüglers Roman "Die Verlassenen": Matthias Jügler: Die Verlassenen. Roman. Penguin-Verlag, München 2021. 176 Seiten, 18 Euro.

Matthias Jügler: Die Verlassenen. Roman. Penguin-Verlag, München 2021. 176 Seiten, 18 Euro.

Das mag ein Stilmittel sein: Der Erzähler ist kein Homme de lettres, sondern arbeitet in der städtischen Verwaltung, was er vor allem deshalb genießt, weil er dort oft mehrere Stunden am Tag allein in seinem Büro ist. Ein Houellebecq'scher Jedermann, ohne jede besondere Qualität, der durch seinen ereignisfreien Alltag gleitet und leise altert. Bis eines Tages der verhängnisvolle Brief eintrifft. Aber dass dieser Satz klingt, als kündige er einen öffentlich-rechtlichen Mittwochskrimi an, ist eben auch ein Problem dieses Romans.

Trotzdem markiert er einen Einschnitt, er eröffnet eine Diskussion: Die Nachgeborenen der DDR-Diktatur fangen an, sich über die Verbrechen Gedanken zu machen, die ihre Eltern einander angetan haben und welche Spuren diese Verbrechen auch in den folgenden Generationen hinterlassen. Die Frage, die dieses Buch aufwirft, kommt keine Minute zu früh.

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