Debütroman von Matthias Brandt:Die Jugend vor dem Sprung

Beginn der Sommerferien in  Niedersachsen und Bremen

Lebensmittelpunkt der Jugend mit jahreszeitlich bedingtem Verfallsdatum: Das Freibad.

(Foto: dpa)
  • Der Schauspieler Matthias Brandt hat seinen ersten Roman geschrieben und schaut damit zurück in seine eigene Jugend in den Siebziger Jahren.
  • "Blackbird" handelt vom Erzähler Motte, der zwischen Freibad, der ersten Liebe und der Trennung der eigenen Eltern irgendwie erwachsen werden muss.
  • So schön treffend und rührend wie in "Blackbird" wurde die (oft erzählte) Jugend schon lange nicht mehr beschrieben.

Von Nicolas Freund

Manchmal ist es doch besser, nichts zu schreiben als nicht zu schreiben. Das hat eigentlich Charlotte in Goethes "Wahlverwandtschaften" - etwas anders formuliert - ihrem Eduard geraten, als der nicht weiß, was er einem Freund in Not schreiben soll. Morten Schumacher ist keine Figur von Goethe, sondern aus "Blackbird", dem Romandebüt des Schauspielers Matthias Brandt, aber wahrscheinlich würde ihm Charlottes Aphorismus gefallen. Denn Morten, den alle Motte nennen, mag Worte sehr gerne, auch wenn ihm das selbst, wie so ziemlich alles andere auch, noch nicht ganz klar ist.

Motte ist 15 Jahre alt, seine Eltern lassen sich gerade scheiden, das Haus wird ausgeräumt, der Vater ist mit einer Frau namens Claudia Hunger-Löper durchgebrannt, sein bester Freund Bogi liegt mit irgendwas Komischem, das aber sehr ernst klingt, im Krankenhaus und dann ist da noch Jacqueline Schmiedebach. Was mit der das Problem ist, kann man sich denken.

Dass Matthias Brandt oder sein Erzähler Motte, je nachdem, nichts geschrieben hätte, kann man trotz des Plaudertons des Romans aber so nicht sagen. Obwohl es zu den Problemen des Erwachsenwerdens gehört, dass sie mit einigem Abstand gar nicht mehr so ernst erscheinen. Oder ist das ein Irrtum?

Mit "Blackbird" (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, 22 Euro) schaut der 1961 geborene Brandt zurück in die eigene Jugend, es ist 1977, "Low" und "Heroes" von David Bowie sind gerade erschienen, im Kino läuft der schwülstige Soft-Erotikstreifen "Bilitis", über den die Jugend alles wissen möchte.

Die Siebziger scheinen im Rückblick selbst für die, die damals nicht dabei waren, wie die Ouvertüre auf die Zukunft. Brandts erstes, 2016 erschienenes Buch mit Kurzgeschichten, die ebenfalls in den Siebzigern spielten, hieß auch gleich "Raumpatrouille", als stünden die Sternenkreuzer aus dem Fernsehen schon bereit zum Aufbruch ins Unbekannte.

Matthias Brandt

Erzählt in "Blackbird" ganz zwangsläufig auch ein bisschen von der eigenen Jugend: Schauspieler Matthias Brandt.

(Foto: dpa)

Dieser Aufbruch ins Unbekannte gilt natürlich verschärft, wenn man gerade 15 Jahre alt ist. Handys und Internet gab es zwar noch nicht, und deshalb bekommt die blonde Jacqueline von Motte auch keine Selfies oder Bilder von irgendwelchen Körperteilen bei Snapchat zugeschickt, sondern einen ganz altmodischen Brief, der auch erst umständlich und wegen des brisanten Inhalts heute natürlich grotesk riskant erscheinend durch mehrere Hände zur Übergabe auf den Pausenhof ihres Gymnasiums geschmuggelt werden muss.

Der Brief ist sehr schön handschriftlich mit allen rührenden Entwürfen und verworfenen Fassungen, also dem, was dann doch nicht geschrieben wurde, in dem Buch wiedergegeben. Das, was sein könnte, ist hier immer unmittelbare Gegenwart und in dem Roman so etwas wie das große Versprechen der Jugend.

"Blackbird" ist auch ein Zurück in die Zukunft, die es damals noch gab

Nicht nur für alle, die heute im Alter von Matthias Brandt sind, müssen diese Siebzigerjahre im Rückblick wie die direkte Vorstufe zur Gegenwart erscheinen. "Die gesamte Technologie existierte bereits, allerdings nur in einer grobmotorischen Variante", schrieb der 1968 geborene norwegischer Schriftsteller Karl Ove Knausgård über dieses Jahrzehnt: "Die Sehnsucht nach den Siebzigern ist nichts anderes als die Sehnsucht nach der Zukunft, denn sie existierte damals, alle wussten, dass sich alles verändern würde." Anders als heute, wenn man sich die Zukunft nicht mehr so gerne vorstellt.

"Blackbird" ist auch ein Zurück in die Zukunft, die es damals noch gab, auch wenn sie damals schon nicht immer toll war. Das konnte schon am Vornamen liegen, wie bei Mottes krankem Freund Bogi, der natürlich nicht Bogi heißt, sondern Manfred Gunnar Schnellstieg, und genau da liegt für die Jungs das Problem, denn schon Taufnamen können ja wie Zeitbomben in die Zukunft wirken. "Als er erst ein paar Tage auf der Welt gewesen war, hatte er schon Manfred geheißen und war Katholik und Mitglied bei Bayern München gewesen. Das waren ja immerhin schon mal drei Sachen, die das Leben in ganz bestimmte Bahnen lenkten, oder? Im Großen und Ganzen war für Bogi nach kaum einer Woche schon klar gewesen, wohin die Reise ging." War es dann natürlich nicht, aber die Zukunft ist ja doch immer nur eine Variante der Gegenwart.

Vorhersehbarer macht das die Sache aber nicht, wie bei Steffi, die mit Morten in eine Klasse ging und "mal vom Apfelbaum in einen großen Laubhaufen gesprungen war, in dem noch die Heugabel gelegen hatte. Hinterher hieß es in der Schule, sie hätte lange operiert werden müssen". Steffi starb aber nicht, sondern wurde Schornsteinfegerin. Motte möchte dann später ganz genau wissen, wo die Narben sind. Dieses Interesse hätte man jetzt nicht geahnt, und Motte erst recht nicht.

"Das Tauchen dauerte viel länger als das Fliegen, wahnsinnig langsam war jetzt alles."

Oder das Freibad, Lebensmittelpunkt der Jugend mit jahreszeitlich bedingtem Verfallsdatum. "Die leeren Becken, die laubbedeckte Liegewiese, die Sprungtürme, der Dreier und der Zehner daneben, komisch, dass mir dieser Ort, der für mich vor ein paar Wochen wie ein zweites Zuhause gewesen war, ich kannte hier wirklich jeden Grashalm, jetzt plötzlich total fremd war." Der Sprung vom Zehner und das anschließende Abtauchen ins kalte Wasser, wo die Welt kurz verschwindet, um dann für immer verändert wieder aufzutauchen, ist keine neue, aber noch immer eine starke Metapher auf diese Zeit des Erwachsenwerdens.

"Irgendwo, vermutlich zwischen dem Fünfer und dem Dreier, war ich mir sicher, dass ich diesen Sprung niemals würde überleben können. Aber dann zog ich im letzten Moment die Beine an, machte mich ganz klein und tauchte so ins Wasser ein, mit dem lautesten Knall, den ich jemals gehört hatte. Weil er nicht irgendwo außerhalb von mir dröhnte, sondern mich ganz umschloss, sodass ich selbst ein Teil dieses Knalls wurde", schreibt Brandt: "Das Tauchen dauerte viel länger als das Fliegen, wahnsinnig langsam war jetzt alles." So schön treffend und rührend wie bei Brandt wurde die oft erzählte Jugend schon lange nicht mehr beschrieben.

Auch, weil sie natürlich für jeden etwas anderes bedeutet. Endlose Varianten der Gegenwart, die erst noch entdeckt, ausprobiert, genossen, verworfen und ausgehalten werden müssen, wie der Text für den Brief an Jacqueline Schmiedebach. "Blackbird" ist eine Suche nach der Sprache, in der sich etwas sagen lässt, das sein könnte, oder in der sich etwas sagen lässt, wenn es eigentlich nichts mehr zu sagen gibt. Für Situationen wie die Trennung der Eltern oder wenn der beste Freund todkrank ist. Der Roman steckt voller Figuren, die sprachlos machen müssten, wie der faschistische, prügelnde Sportlehrer oder der coole, lockere Sozialkundelehrer, der mit den Elftklässlerinnen ins Bett geht. Was soll man dazu sagen? Doch eine ganze Menge und nicht einfach nichts.

Der "Blackbird" ist die Amsel, nur eben auf Englisch. Denn Englisch ist dann doch nur eine Variante von Deutsch. Oder von Französisch. Oder umgekehrt. Wenigstens so, wie es von Motte, Bogi und wie sie alle eigentlich gerade nicht heißen, gesprochen wird. Denn der Blackbird ist außerdem der zweitbilligste Wein aus dem Supermarkt, nämlich der "besonders bekömmliche" Amselfelder, den Bogi gleich mal ins Englische übersetzt: "Der haut total rein, der Blackbirdfielder", sagt er. Motte zweifelt: "Jaja, alles klar, Bogi, woher willst'n das wissen, wenn wir das auf der Fahrt zum allerersten Mal ausprobieren wollen?" Könnte halt sein. Muss man eben ausprobieren.

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