Matisse und seine Kunst:Wie man den Raum in Farben auflöst

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Henri Matisse hat als Maler, als Zeichner und als Bildhauer die Gestaltungsprinzipien neu durchdacht. So wurde er neben Picasso zum wichtigsten Künstler der Moderne.

Von Gottfried Knapp

Der einzige lebende Künstler, den Pablo Picasso neben sich gelten ließ, ja den er als wichtigsten Maler der Moderne schätzte, war Henri Matisse (1869 - 1954). Doch anders als bei Picasso lässt sich das Lebenswerk von Matisse nicht in eine Folge genau definierter Perioden aufteilen.

Zwischen den spätimpressionistischen Erstversuchen des hungernden Pariser Malereistudenten um 1900 und den farbigen Papierschnitzel-Collagen des in aller Welt gefeierten alten Meisters ein halbes Jahrhundert später klaffen rein formal solche Abgründe, dass man auf den ersten Blick Schwierigkeiten hat, all diese Werke einer einzigen Person zuzuordnen. Doch wenn man den langen künstlerischen Weg, den Matisse als Maler, aber auch als Zeichner und Bildhauer zurückgelegt hat, verfolgt, wird man eine Radikalität in der Anwendung der jeweiligen bildnerischen Mittel entdecken, die ohne Beispiel ist. Konsequenter hat kein Künstler seiner Generation darüber nachgedacht, wie im zweidimensionalen Medium der Malerei unsere dreidimensionale Welt widergegeben werden kann, wie in Zeichnungen mit dünnen Federstrichen fleischliche Körper aufs Papier gezaubert werden können und wie beim Modellieren von Plastiken die dritte Dimension aktiviert wird.

Matisse hat, wie er selber in den "Notizen eines Malers" schrieb, ein Leben lang "von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe" geträumt, "einer Kunst, die für jeden Geistesarbeiter (...) ein Beruhigungsmittel ist, eine Erholung für das Gehirn, so etwas wie ein guter Lehnstuhl, in dem man sich von physischen Anstrengungen erholen kann". Matisse wusste aber auch: Zu dieser in Worten beschworenen Leichtigkeit kam man nur, wenn man sich der von den Kunstschulen verlangten Naturähnlichkeit konsequent widersetzte. So war sein Leben, wie er anderswo bekannte, "ein ständiges Suchen nach Ausdrucksmöglichkeiten jenseits des naturgetreuen Abklatsches".

Die Impressionisten hatten eindrucksvoll vorgeführt, wie man sich von den malerischen Konventionen des Atelierbetriebs entfernen kann, indem man das von der Natur gespendete rohe Tageslicht mit Farben einzufangen versucht. Durch diese luministische Neuansicht der Welt waren die Impressionisten freilich der Natur, die Matisse im Bild überwinden wollte, noch einmal ein Stück näher gekommen. Und die Pointillisten, die den Natureindruck dadurch erzeugten, dass sie die von den Impressionisten noch zusammengemischten Farben in winzigen Einzelpunkten ungemischt nebeneinandersetzten, stellten zwar erstmals die einzelnen Farben frei, doch ihre zusammengepunkteten, konturarmen Kompositionen zerflossen, sie hatten keine Festigkeit, sie boten nicht das "Gleichgewicht", das Matisse vorschwebte, nicht den "Lehnstuhl", in den man sich zurücklegen konnte. Mit den von den Pointillisten isolierten Farben jedoch konnte man gut weiterexperimentieren.

Matisses Akte zählen zum Sinnlichsten, was es in der Zeichenkunst gibt

Im südfranzösischen Hafenstädtchen Collioure hat Henri Matisse erstmals Ansichten der umgebenden Landschaft großflächig aus ungemischt grellen Farben zusammengesetzt. Vor allem die Grundfarben Rot, Blau und Gelb stellte er plakativ einander gegenüber. Der Effekt war enorm. Das Schimpfwort "Fauves" ("Wilde"), das ein Kritiker bei der ersten Präsentation dieser Bilder 1905 in Paris aus dem Hut zog, wurde bald zum Stilbegriff. Die mitausstellenden "wilden" Maler konnten noch eine ganze Zeit lang von dem damals errungenen Nimbus leben. Für Matisse aber war die Entdeckung der enormen Wirkung frei nebeneinandergesetzter und improvisatorisch über die abgebildeten Gegenstände verteilter Farben der Ausgangspunkt für weitere formale Experimente.

Die befreiten Farben kamen am besten zur Wirkung, wenn sie flächig aufgetragen wurden: Durch die nebeneinandergestellten Farbflächen und den Verzicht auf Schattenwirkungen aber ging in den Bildern der Tiefenraum verloren. Alle farblich notierten Gegenstände rückten gleichermaßen nach vorne; die Kompositionen wurden flächig; die Farben aber, die den Gegenständen zugeteilt waren, bildeten ein Muster auf der Malfläche, das durchaus dekorative Qualitäten entwickeln konnte.

Matisse hat das Experiment mit den frei eingesetzten Farben also in all seinen formalen Auswirkungen konsequent zu Ende gedacht, ja, er hat sich mit der Auflösung des Raums in Farbmuster ein Medium geschaffen, das unendlich viele spielerische Varianten zuließ und seinem Ideal einer "Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit und der Ruhe" auf fast schon ideale Weise nahekam. Für die Kunstgeschichte aber war die Beseitigung der Tiefenillusion und die Reduzierung des Raums auf farbige Muster ein ähnlich revolutionärer Akt wie das Zerhacken und Neuverkleben der Gegenstände bei den Kubisten.

Um in seinen bunten Farbfeldern aber dennoch Körper von einiger Sinnlichkeit zu beschwören, musste Matisse das flächige Farbgeschehen, wie er selber sagte, "linearisieren", also mit Linien strukturieren. So bekam die das Körperliche definierende Umrisslinie neben der Farbfläche eine zentrale Bedeutung. Und auch dekorative Linienmuster, wie er sie auf Teppichen oder in der Volkskunst vorfand, wurden gerne zur Belebung der Fläche eingesetzt. Ja, auf vielen seiner Bilder, vor allem auf den Darstellungen liegender Odalisken, nehmen bunt gemusterte Textilien und Wandbehänge einen beträchtlichen Teil des Bildraums ein.

Mit Farben, dem Gestaltungsmittel der Malerei, hat Matisse also virtuos geschaltet. Aber auch dem Gestaltungsmittel der Zeichnung, dem umreißenden und schraffierenden Strich, hat er höchste Wirkungen abgewonnen. Seine mit verblüffend wenigen schwarzen Umrisslinien aus dem weißen Zeichenpapier herausmodellierten weiblichen Akte gehören zum Sinnlichsten, was in der Geschichte der Zeichenkunst geschaffen worden ist. Und wenn man die vergleichsweise wenigen Skulpturen, die Matisse in seinem Leben modelliert hat, mit dem vergleicht, was die Bildhauer seines Alters, aber auch sein großes Vorbild Rodin an Plastiken hinterlassen haben, dann wird man auch hier eine gattungsspezifische Begabung erkennen, die allenfalls mit Picassos Fähigkeiten verglichen werden kann. Plastisch direkter hat um 1910 kein Bildhauer gearbeitet als der Mann, der in seiner Malerei gerade die Plastizität abgeschafft hatte.

Seinem erklärten Ideal einer Kunst, die wie ein Lehnstuhl Erholung verspricht, ist Matisse aber wohl im hohen Alter am nächsten gekommen, als er nach einer langen Krankheit, im Rollstuhl sitzend, also quasi vom beschworenen "Lehnstuhl" aus, großformatige Formen aus farbig bemalten Papierbögen herausschnitt und mit diesen farbigen Flecken auf weißen Flächen abstrakte Collagen zusammensetzte, deren Konturen sich zu verblüffend lebendigen Körpern verdichteten.

Auch diese von der Kunstwelt mit großer Begeisterung begrüßten leuchtend hellen Scherenschnittbilder der Vierziger- und Fünfzigerjahre - sie wirkten neben dem düsteren Farbgewühle der damals üblichen abstrakten Malerei wie die Werke eines kindlich unbekümmerten Anarchisten - folgten noch einmal genau jenen Prinzipien, die Matisse schon am Anfang des Jahrhunderts für sein Werk verlangt hatte. Ja, sie zogen die letzte Konsequenz aus den Grundsätzen, die er einmal formuliert hatte. Die künstlerischen Überlegungen zur Farbe, zur Fläche und zur Linie wurden in einem einzigen handwerklichen Vorgang zusammengefasst: Indem er aus einfarbigen Papierbögen organische Formen herausschnitt, half er der Farbe zur direktesten Wirkung. Aber auch die umrissenen Flächen waren noch nie so unbefleckt vor das Auge gehoben worden. Und schließlich konnte die Umrisslinie, die von der Schere gezogen worden war und auf dem weißen Grund wirksam wurde, ihre definierende Kraft so elementar ausspielen wie in keinem mit dem Pinsel gemalten Bild.

© SZ vom 13.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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