"Maß für Maß" in Hamburg:Wer reimt schneller?

Thalia Theater, Maß für Maß ; Maß für Maß

Maßlose Dekadenz: „Maß für Maß am Hamburger Thalia-Theater.

(Foto: Krafft Angerer)

Thomas Melle hat Shakespeares "Maß für Maß" aus der Pestzeit in die pandemische Gegenwart übersetzt. Im Hamburger Thalia-Theater ist das Original kaum wiederzuerkennen.

Von Till Briegleb

Die Werkstätten des Thalia-Theaters hatten wahrscheinlich richtig Spaß. Sie durften einen riesigen Schädel aus fleischfarbenem Marmor bauen und einen Teppich aus Monstermett, einen rosa Penisbrunnen und ein Sofa aus Schafskadavern, dazu in Schlieren aufgelöste Fototapeten, auf denen verbundene Füße und Nato-Stacheldraht in Verpackungsmüll vom Kleinen Feigling bis zum Burgerpapier zu sehen sind. So stellt sich Bühnenbildnerin Barbara Ehnes das heutige Wien vor.

Auch in der Kostümabteilung dürfte ein Jauchzen ausgebrochen sein, als Annabelle Witt ihre Entwürfe präsentierte. Kurze Pluderhosen und Rüschenblusen aus glänzenden Stoffen zu Stiefeln aus weißem Lack oder Schlangenmuster für die Herren, ausladende Glockenröcke mit Bouquets der niederländischen Stilllebenmalerei als Print für die Damen.

Maßlose Dekadenz für "Maß für Maß", so sieht Stefan Pucher Shakespeares Gerechtigkeits- und Geilheitsparabel am österreichischen Hof, von der in dieser Inszenierung allerdings nicht mehr viel übrig ist. Es empfiehlt sich, vorher eine kurze Handlungszusammenfassung des Ursprungstextes zu lesen, denn in der Bearbeitung des Schriftstellers Thomas Melle ist von dem 1604 uraufgeführten Stück nur noch ein vages Gerüst zu erkennen. Shakespeare ist mit seinen Vorlagen bekanntlich nicht anders verfahren. Nur dass der beste Theaterdichter aller Zeiten - anders als Melle - seine tolle Fantasie immer durch eine Orientierung am Sinn und an einer Erzählung bändigte.

Melle hat das Stück in die Gegenwart verlegt, wo die Seuche "Schwedischer Odem" wütet

Zwar geht es in dieser nicht mal zweistündigen Adaption anfänglich noch um die eigentliche Handlung, dass ein Herzog zum Schein seine Stadt verlässt, um zurückgekehrt als Mönch verkleidet den Interimsherrscher Angelo zu beobachten, wie streng dieser die Gesetze anwendet. Aber umso mehr diesen Hinrichtungsfreund mit der Gesetzestugend im Mund die Lust auf die Klosteranwärterin Isabella packt, desto entfesselter wird die Assoziationsflut des Neuschreibers Melle. In langen Wortspielmonologen und zufällig wirkenden Gegenwartsbezügen ergießt sich mit zunehmender Dauer des Abends absurde Reimerei ins prallsinnliche Bühnenbild, bis bei vollster Konzentration ein Zusammenhang kaum noch auszumachen ist.

Verlegt hat Melle das Stück, das Shakespeare während der Pest in London schrieb, in die Gegenwart, wo eine Seuche namens "Schwedischer Odem" herrscht, die unschwer als Trumps "Chinesischer Virus" zu erkennen ist. Verhandelt wird irgendwie das Verhalten demokratischer Herrschaft im Pandemiefall, aber es ist unklar, ob Melle wie ein Verschwörungsgläubiger ein Regime diktatorischer Absichten hinter Angelos Bestrafung des Covid-Sünders Claudio beschreiben möchte - oder das Gegenteil. Denn der metaphernüberladene Neutext beschäftigt sich mit dem Verwischen von Grenzen und Sinn - und die Inszenierung folgt ihm konsequent.

Jirka Zett als triebverfallener Alleinherrscher auf Abruf exaltiert sich entfesselt als schwule Super-Diva, die aber auf Isabella, die feministische Verlobte Jesu im Nonnenkostüm, abfährt. Lisa-Maria Sommerfeld spielt diese Schwester des zu Tode verurteilten Sünders Claudio, der seine Verlobte angesteckt hat, nachdem er im Fleisch-Lust-Bordell war, erfrischend frei von jedem devoten Verhalten. Diese Frau ist zunächst bereit, als Lustopfer für die Befreiung ihres Bruders zu dienen, weigert sich aber, konfrontiert mit der männlichen Mickrigkeit Angelos und dem Gejammer Claudios, dann doch, sich vergewaltigen zu lassen. Lieber zerlegt sie den bigotten Testherrscher argumentativ zu Kleinholz, was der stärkste Auftritt dieser sportlichen Schnellsprechveranstaltung ist.

Auch die Herzog (Lisa Hagmeister) unterstreicht mit kaltschnäuziger Ironie und Güte, dass Männer als Frauen klüger und sympathischer mit der ihnen anvertrauten Macht umgehen. Oder waren es Frauen als Männer? Jedenfalls ist diese starke Betonung weiblicher Überlegenheit im Krisenfall Melle und Pucher als Moral genug.

Nach zwei, drei feministischen Szenen monologisiert das Stück in der barocken Digitalmodernität so vor sich hin: "Wer Ohren hat zum Hören, der röhre. Die Röhre sei ganz kaltzuhalten, und kalte Platten allenthalben. Und nie mehr Bio, alles trocken!" Da will man dann nicht schnöde bocken und gibt sich ganz dem Blödeln hin, erfreut sich an dem kruden Sinn und hat dabei - ja was! - auch seinen Spaß.

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