Philosophie:Vom Recht auf Maske

Coronavirus - Venezuela

Eine Frau trägt in Venezuela eine Mundschutzmaske der Zeichnung einer weinenden Clown-Figur

(Foto: dpa)

Bevor wir uns eine künstlich gefertigte Maske aufsetzen, tragen wir laut dem Denker Helmuth Plessner schon eine andere, sehr viel weniger sichtbare mit uns herum.

Von Gustav Seibt

Bevor wir uns eine künstlich gefertigte Maske aufsetzen oder einen Mund- und Nasenschutz überstreifen, tragen wir schon eine andere, sehr viel weniger sichtbare Maske. Denn unser Inneres liegt nicht offen zutage, dafür ist es zu unfest, zu weich und fließend und unbestimmt. Der Mensch ist zwar ein Naturwesen, aber eins, dessen Verhalten weniger festgelegt ist als das aller anderen Lebewesen. Wir müssen uns in irgendeiner Form artikulieren, eine Art Schnittstelle zwischen innen und außen herstellen. Selbst die Seelen von Liebenden, Familienangehörigen und Freunden fließen nicht unmittelbar ineinander. Wir zeigen ein Gesicht, gewiss oft ein unwillkürliches, von spontanen Impulsen oder frühen Prägungen bestimmtes, aber ebenso oft auch ein absichtsvoll modelliertes Gesicht.

Je weiter die Kreise sind, in die wir uns hineinbewegen, umso rollenhafter, umso mehr von Mustern, Umgangsformen, Konventionen, Erwartungen geformt zeigen wir uns. Der Denker, der diesem unvermeidlichen Mechanismus am originellsten nachgespürt hat, war Helmuth Plessner, und zwar in seiner Schrift mit dem bezeichnenden Titel "Grenzen der Gemeinschaft", die 1924 publiziert wurde, mitten hinein in eine utopisch erregte Epoche.

Plessner wandte sich gegen damals aktuelle Ideale von Gemeinschaft unter völkischen oder geschichtsphilosophischen Vorzeichen. "Gemeinschaft", die unmittelbare Verbundenheit, war als Widerspiel von "Gesellschaft" gedacht, dem Aggregat von Gruppen und Individuen, von Klassen und Berufen, von Stadt und Land und wie die Differenzierungen alle lauten. Das Angebot von "Gemeinschaft" war Zusammenhalt ohne Diskussion, ohne Konflikt, ja ohne Politik.

Plessners kühle Antwort galt der Freiheit des Einzelnen und der Offenheit menschlicher Möglichkeiten. Dass das Zusammenleben von Verschiedenen nur in geformtem Verhalten, mit Miene, Geste, Takt, Diplomatie, aber auch mit Spiel, Humor und Ironie möglich ist, wollte Plessner seinen Zeitgenossen nicht als Defizit, sondern als Chance schmackhaft machen. Es ist die Chance der Zivilisation.

Plessner sprach von einem "Recht auf Maske", die unser verletzliches Inneres schützt, uns vor Entblößung und Lächerlichkeit bewahrt. Gesellschaft ist als Rollenspiel auch ein Tanz, ein Maskenball. Konventionen stützen, aber als Konventionen erlauben sie auch bedeutungsvolle Abweichungen - man kann mehr zum Ausdruck bringen in einer Welt von Umgangsformen als ohne sie.

Die stofflichen Masken, die wir jetzt für eine Zeit lang tragen sollen, wirken wie eine Allegorie auf Plessners Gedanken. Denn wir tragen sie als Einzelne, aber für einen gemeinschaftlichen Zweck. Sie schaffen Abstand, aber sie sollen Geselligkeit bewahren. Maskentragend verschmelzen wir nicht zu einer Gemeinschaft, dafür kooperieren wir. Kooperation: Das ist die Brücke zwischen Individuum und Gesellschaft. Kooperation kann etwas sehr Befriedigendes sein.

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