Marx' "Das Kapital":Auferstanden aus dem Ruin

Bleischwer lag "Das Kapital" im Lager, doch plötzlich verlangt der Markt nach Karl Marx. Die steigende Nachfrage beschert dem Verleger Jörn Schütrumpf aber ganz andere Sorgen.

Jochen Arntz, Berlin

Plötzlich, an diesem Berliner Morgen, an dem die Sonne klar im Osten steht, stemmt er sich aus dem Stuhl am Konferenztisch. Er steht auf, dreht sich um und durchmisst mit ein paar Schritten das stickige Büro. Er sucht etwas. Dann steht er vor seinem Schreibtisch und zieht eine braune Holzschatulle zu sich heran.

Karl-Marx-Monument in Chemnitz; ddp

"Marx ist wieder Mode": In Berlin konstatiert der Marx-Verleger eine Kapital-Knappheit, und in Chemnitz wird ein Marx-Denkmal zum Kunstobjekt.

(Foto: Foto: ddp)

Jörn Schütrumpf hat die Schatulle sicherlich schon einige Male präsentiert, doch als er den dünnen Deckel anhebt, da steht in seinem Gesicht ein feines Lächeln, das ungläubig und belustigt zugleich ausfällt. Über das, was er jetzt sieht, kann er sich offensichtlich gut amüsieren. Immer wieder. In der Kiste liegt ein grünes Kissen aus Samt und darunter, in einem samtenen Futteral, liegen zwei blaue Bücher: Karl Marx, Das Kapital, Band 1 und 2. Schütrumpf lässt den Deckel zufallen. "So was haben sich die Genossen hier früher geschenkt", sagt er. "Was für ein Kitsch."

Die Welle kommt von links

Jörn Schütrumpf hat das Kästchen in irgendeiner Kammer gefunden, als er vor ein paar Jahren in den fünften Stock dieses Hochhauses gezogen ist, in dem einst die SED-Zeitung Neues Deutschland alle Etagen belegte. Schütrumpf, schwarzes Hemd, schwarze Hose und Sandalen ohne Socken, ist in gewissem Sinne ein Nachlassverwalter von Karl Marx, denn er ist der Geschäftsführer des Karl Dietz-Verlags, der unter dem Namen Dietz-Verlag ein Verlag der DDR war.

Damals arbeiteten dort 190 Menschen, heute hat Schütrumpf noch eine Kollegin im Büro nebenan. Und er hat Marx. Genauer gesagt die große Ausgabe "Marx-Engels-Werke", unter Kennern MEW genannt: Ja genau, diese blauen Bände, die über Jahrzehnte die Regale von Genossen und Studenten beschwerten, und die auch noch auf Ikea-Brettern wichtig genug aussahen. Klassiker, die im Osten für Rechtgläubigkeit standen und im Westen einen gewissen intellektuellen Glanz verliehen, auch ungelesen.

Mit dieser Ware handelt Jörn Schütrumpf; und wo, wenn nicht hier, sollte er mit dem Kapital ein wenig Geld verdienen, in einem Hochhaus, aus dem er auf die "Straße der Pariser Kommune" blickt, dieses Asphaltband im Osten Berlins, das in die breite Karl-Marx-Allee mündet, die einst Stalin-Allee hieß. Mittlerweile gehört der Verlag einer Stiftung, die der Rosa-Luxemburg-Stiftung nahesteht, die wiederum der Linkspartei nahesteht. Alles hat sich gefügt. Und so vertreibt der Verleger Schütrumpf gedruckte Überzeugungen, wobei es eher unwichtig ist, ob es immer seine eigenen sind.

Ein Buch fürs ganze Jahr

Eine Zeit lang sah es ohnehin so aus, als ob diese Überzeugungen völlig unverkäuflich seien; es ist nicht lange her. Schütrumpf steht am Fenster, er blickt auf die Balkone der Plattenbauten, die Satellitenschüsseln daran, und sagt über den Verlag und sein Programm: "Wir dachten, wir sind ausgelaufenes 20. Jahrhundert, wir dachten, wir haben mit der Gegenwart nichts mehr zu tun." Das ist ein ziemlich ehrlicher Satz. Und so wie Schütrumpf da steht, mit gestutztem Marx-Bart und der schwer verrückbaren Statur, könnte man auch den Verleger für einen Mann aus einer anderen Zeit halten. Aber dann setzt er sich an den Schreibtisch, fährt den Computer hoch, loggt sich ein ins Programm seines Buchauslieferers und treibt diese Geschichte mit ein paar Klicks in die Gegenwart.

Auf dem Monitor erscheinen Zahlen, die Schütrumpf selbst lange nicht für möglich gehalten hat. Im Mai des Jahres 2008 hat er dreimal so viele Exemplare des Kapitals von Marx verkauft wie im Mai des vergangenen Jahres, das ist sein neuester Rekord. Und darauf war er in gewissem Sinne sogar vorbereitet, denn er hatte schon Ende 2007 erfahren, dass er nahezu doppelt so viele Kapital-Exemplare losgeworden war wie im Jahr zuvor.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: das Comeback eines Longsellers

Auferstanden aus dem Ruin

Nun ist es natürlich nicht so, dass Marx sich in zwei Jahren zu einem neuen Bestseller entwickelt hat, im Fall des Kapitals lässt sich eher mit dem Branchenwort vom Comeback eines Longsellers argumentieren. Der Verlag erhofft sich rein ökonomisch mehr von seinen Sachbüchern zur Zeitgeschichte und der Berliner Stadthistorie. Aber erstaunlich ist es schon, dass Schütrumpf vor fünf Jahren nur ein paar hundert Exemplare der Marxschen Kapitalismustheorie losschlagen konnte, und heute anderthalbtausend und mehr im Jahr verkauft.

"Marx ist wieder Mode", sagt Schütrumpf, und er meint das gar nicht so fröhlich, wie es sich anhört; denn erstens ist er kein Mann, der von Moden angezogen wird, und zweitens weiß ein Historiker wie er, dass Moden ihrem Wesen nach vergänglich sind. Vielleicht mag er einfach auch nicht auf Wellen mitschwimmen, aber dass er sich zur Zeit auf dem schaumigen Kamm einer solchen befindet, das hat Schütrumpf schon erkannt. Er nennt sie die "Welle der Politisierung", und er mag den Namen gar nicht aussprechen, aber dass ein Mann wie Oskar Lafontaine genug Wind macht, um zumindest kleinere Wasser zu bewegen, leuchtet ihm ein. Verkauft sich das Kapital doch auch wieder im Westen.

Doch ist es wohl mehr als ein Buchsieg der Linkspartei, der sich in den Zahlen aus Schütrumpfs Computer widerspiegelt. Der Verleger glaubt, dass wieder mehr Menschen wissen wollen, wie der Kapitalismus funktioniert, oder zumindest wie Marx ihn erklärte. Sie wollen es wissen, seitdem dieser Kapitalismus nicht mehr die meisten Menschen reicher, sondern viele ärmer macht.

"Dieses Buch ist mein Angstgegner"

Die akademische Frage ist eine konkrete geworden: Früher, sagt Schütrumpf, hat sich das Kapital besonders gut im März und im Oktober verkauft, Studenten bestellten es zum Anfang des Sommer- oder Wintersemesters. Heute wird es das ganze Jahr über nachgefragt, längst nicht mehr nur von Studenten. Und so könnte man den neuerlichen Erfolg dieses Buches auch mit einem Satz aus dem Kapital selbst erklären. "Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert", schrieb Karl Marx. Das Kapital als kleiner Helfer bei der großen Sinnsuche, vielleicht ist es genau das.

Wie auch immer, Jörn Schütrumpf bereitet diese Entwicklung mittlerweile ein wenig Sorge. Nicht politisch, vielmehr ökonomisch. Er fürchtet diese Anrufe aus dem Auslieferungslager, wenn es wieder heißt: "Das Kapital geht uns aus." Der Auslieferer meint dann zwar das Buch, aber Schütrumpf muss gleich an das Geld denken. "Dieses Buch ist mein Angstgegner", sagt der Verlagschef. Das klingt ein wenig überraschend, ist aber einfach zu erklären: Für den Druck einer neuen Auflage des Werkes muss der Verlag eine fünfstellige Summe vorstrecken, und dann rentiert sich das Kapital nicht einmal besonders, weil dieses Buch aus naheliegenden Gründen nicht wirklich teuer sein darf, 19,90 Euro kostet es zur Zeit. Es ist dick, schwer, gebunden und golden beschriftet.

Am Nachmittag dieses Junitages folgt Jörn Schütrumpf dem Lauf der Sonne und fährt in den alten Westen Berlins. In Tempelhof, in einem zugigen Industriegebiet, steht das Auslieferungslager, in dem die Paletten mit den Kapital-Bänden gestapelt werden. Die blauen Bücher sind mit schwarzer Schutzfolie verhüllt, die jüngste Auflage darf nicht vergilben. Schütrumpf sieht die Bestände und weiß, dass er die Nachfrage noch eine Zeit lang befriedigen kann. Bald aber wird er wieder die Druckerei beauftragen müssen. Die Druckerei, die er dann anruft, steht in Tschechien. "Das Kapital in Deutschland zu drucken, das kann ich mir nicht leisten", sagt Schütrumpf. Er sagt es sehr gelassen. Wer mit Waren handelt, kennt diese Wahrheiten, seit Karl Marx.

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