Weihnachtsroman:Melancholie im Fonduetopf

Als Film-Comedy etwas überstrapaziert, aber mit diesem Buch lassen sich familiär herausfordernde Feiertage besser überstehen: Maruan Paschens aberwitziger Roman "Weihnachten".

Von Ulrich Rüdenauer

Das Weihnachtsfest als Motiv ist in der Literatur ein Dauerbrenner. Alle Jahre wieder schreiben Autorinnen und Autoren Weihnachtsromane, Weihnachtsgeschichten, Weihnachtsgedichte, und zumindest in den letzten hundert Jahren tun sie das unter eher ironischen Vorzeichen. Verwunderlich ist das nicht: Das bürgerliche Setting der Weihnachtsfeierlichkeiten liefert eine dankbare, konfliktträchtige Vorlage. Die Familie kommt einmal im Jahr zusammen, die Einheit von Ort und Zeit ist gewahrt, und schon fliegen die Fetzen. Wenn das kein Fest für den Satiriker im Schriftsteller ist! Möglicherweise, aber das nur am Rande, hat es der ein oder andere Autor auch darauf abgesehen, sein "Christmas Carol" zu schreiben - einen Longseller also, der alle Jahre wieder neu aufgelegt unterm Weihnachtsbaum landen kann und stetig Tantiemen abwerfen soll.

Der 1984 geborene Maruan Paschen nennt seinen neuesten Roman gleich ohne Umschweife "Weihnachten", auf dass die Buchhändler aufmerken mögen. Eine typische, konsumkritische Satire ist dieses Buch nicht. Und wer gar eine gemütliche oder erbauliche Lektüre erwartet, sollte gleichfalls gewarnt sein. Niemand kommt aus dieser Lektüre heil heraus, schon gar nicht die Figuren. Denn auch wenn die Ausgangslage noch allen weihnachtsliterarischen Konventionen entspricht - die Familie sitzt um den Fonduetopf herum -, wird doch rasch klar, dass hier erzählerisch einiges aus dem Ruder läuft.

Mit den Handschellen fängt der Wahnwitz an und hört dann nicht mehr auf

Nach ein paar Seiten lässt sich nicht mehr genau sagen, was eigentlich geschieht und ob nicht alles einer fantastisch verschrobenen Wahrnehmung entspringt. Ein Indiz für diese Vermutung gibt es zumindest: Der naiv auftretende, zugleich gewiefte Ich-Erzähler Maruan berichtet einem Psychiater namens Dr. Gänsehaupt von den traditionellen Weihnachtsfeiern einer Familie namens Paschen. Muttern, fünf Onkel und Maruan selbst kommen unterm Weihnachtsbaum zusammen, verteilen untereinander Geldgeschenke und tunken - hier fängt der Wahnwitz an, hört aber lange noch nicht auf - mit Handschellen angetan ihre Fleischstückchen in den Topf. Maruan Paschen lässt seinen Erzähler aus der Familiengeschichte plaudern, ein in immer groteskeren Schleifen sich bewegender Monolog, dessen Adressat - Psychiater Gänsehaupt - so ausdauernd schweigt, dass man am Ende nicht sicher ist, ob es ihn wirklich gibt.

Überhaupt kann man sich nur über wenig in diesem Roman im Klaren sein. Hat Maruan seine Sippe tatsächlich auf dem Gewissen, wie er am Anfang behauptet? Konnte er das Immergleiche nicht mehr ertragen und hat, statt zur Fonduegabel, zum Fleischermesser gegriffen, um dem trauten Zusammensein ein Ende zu bereiten? Was wir mit Sicherheit sagen können: Paschen überdreht das Genre der Weihnachtssatire - verglichen etwa mit Heinrich Bölls "Nicht nur zur Weihnachtszeit" - noch einmal gehörig, lässt an der Familie kein realistisches Haar, überreizt und überdehnt die Sprache, bis man das Gefühl hat, einfach zu viel Braten, Plätzchen und Rotwein in viel zu kurzer Zeit zu sich genommen zu haben.

Unter oder hinter dieser von überbordender Fantasie getriebenen Rede verbirgt sich aber eine tiefe Melancholie - denn der Tod sitzt hier mit am Tisch, er hat sich schon in die Runde eingeschlichen, und die Familie gleicht mehr einem auf Gedeih und Verderb einander ausgelieferten Schicksalsverbund als einer dem Leben trotzenden, eingeschworenen Gemeinschaft. Letztlich geht es darum, sich mit dem Alleinsein abzufinden, das man ausgerechnet dann am heftigsten verspürt, wenn man mit den Liebsten ritualisierte Handlungen vollzieht.

Vorwerfen ließe sich Paschen allenfalls, dass er zu deutlich eine Fährte zur Psychose des Erzählers legt, zu einer pathologischen Wirklichkeitsauflösung, wo es doch noch ein bisschen irrer wäre, könnte das Erzählte in seiner Absurdität einfach so dastehen und schließlich ins Leere laufen. Aber dieser Vorbehalt sollte nicht von der Lektüre abhalten - die familiär herausfordernden Weihnachtstage lassen sich mit "Weihnachten" womöglich besser überstehen als ohne.

Maruan Paschen: Weihnachten. Roman. Matthes & Seitz Berlin. 2018. 196 Seiten, 20 Euro.

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