Martina Gedeck über "Das Tagebuch der Anne Frank":"Ihr war klar, in was für einer Falle sie sitzen"

Anne Frank

Eine Reproduktion zeigt ein Foto von Anne Frank, enstanden um das Jahr 1941.

(Foto: Anne Frank Fonds Basel/dpa)

Martina Gedeck spielt die Mutter von Anne Frank. Ein Gespräch über einen Dreh unter klaustrophobischen Umständen - und warum die Mutter in den Tagebüchern so schlecht wegkam.

Interview von Paul Katzenberger

Anne Frank floh 1934 mit ihren Eltern Otto und Edith sowie ihrer Schwester Margot vor den Nationalsozialisten von Frankfurt über Aachen in die Niederlande. Ab 1942 versteckten sich die Franks mit der befreundeten jüdischen Familie van Pels und dem jüdischen Zahnarzt Fritz Pfeffer in einem Amsterdamer Hinterhaus vor den Nazis. 1944 wurden sie entdeckt und alle bis auf Otto ermordet. Die Zeit im Hinterhaus beschrieb Anne Frank in einem Tagebuch, das bislang vier Spielfilmen als Vorlage diente. Nun legt Hans Steinbichler mit "Das Tagebuch der Anne Frank" den ersten deutschen Spielfilm zu dem Stoff vor. Martina Gedeck spielt darin die Rolle der Mutter Edith.

SZ.de: Sie haben in Ihrer Karriere oft starke und dominante Frauen gespielt, etwa Ulrike Meinhof oder die "Bella Martha". Edith Frank, die Sie jetzt verkörpern, ist eine Frau, die sich zurücknimmt. Das muss Ihnen schwergefallen sein, oder?

Martina Gedeck: Das war in der Tat ungewöhnlich. Ich wollte bei diesem Film sehr gerne dabei sein. Als ich dann aber merkte, wie limitiert diese Frau im Drehbuch vorkommt - alles darin läuft ja über den Vater - war ich schon ein bisschen eifersüchtig.

Auf Ulrich Noethen, der den Vater Otto Frank spielt?

Nicht auf den Schauspieler, aber auf die Rolle. Weil der Vater Annes Liebling ist. Dann wurde mir aber schnell klar, dass sie eine hochinteressante Frau ist. Auch den Konflikt mit Anne finde ich natürlich schauspielerisch sehr interessant. Trotzdem muss sie als Mutter vor allem für ihre Kinder da sein.

Sie meinen: Zurückhaltend dienend, aufopferungsvoll?

Nein, sondern in einem konstruktiven Sinne, vor dem Hintergrund der Situation des Eingeschlossenseins. Edith Frank hat versucht, als familiäres Zentrum die Familie zusammenzuhalten. Mediativ zu wirken, und dabei trotzdem ein Kraftfeld zu bilden.

Eine Person, die es allen recht machen will, ist ja nicht unbedingt ein Kraftfeld.

Sich nicht in den Vordergrund zu rücken, heißt nicht, dass man es allen recht machen will. Ihre Stärke bestand darin, Haltung zu bewahren und den Kindern ein Vorbild zu sein. Anne, die in der Pubertät war und sich entsprechend überbordend verhielt, durfte ja nicht aus dem Ruder laufen. Die Mutter konnte es nicht darauf ankommen lassen, dass es zu unlösbaren Konflikten kommt. Mit Frau van Pels gab es ja ohnehin immer wieder Auseinandersetzungen. Insofern empfand ich Edith als aktive Figur, obwohl sie nicht so viel spricht. Das hat sich am Set bestätigt.

Worin genau bestand diese schauspielerische Herausforderung?

Eine Präsenz auszudrücken, obwohl es dafür keine Worte gibt. Die Enge, die Angst, die Verzweiflung und auch die Hoffnungslosigkeit zu durchleben und zu zeigen. Interessant fand ich auch, dass sie gesehen hat, dass das Ganze nicht gut ausgehen wird. Sie war eher die Skeptische der beiden Eltern, wie wir heute wissen. Otto ging davon aus, dass das Ganze eine vorübergehende Angelegenheit ist. Edith hat nicht wirklich daran geglaubt. Ihr war klar, in was für einer Falle sie sitzen.

In einer Szene sagt doch aber er zu ihr: 'Ich glaube, dass alles noch viel schlimmer ist.' Er meint damit: Juden werden nicht nur deportiert, sondern umgebracht.

Das ist ganz am Anfang, als sie in Holland noch in Freiheit lebten. In dem Moment aber, in dem sie im Hinterhaus-Versteck waren, ging es ja immer um die Hoffnung: 'Bald ist es vorbei, jetzt kommen die Alliierten, der Krieg ist bald zu Ende', und so weiter. Sie hat nicht wirklich daran geglaubt.

"Was da wirklich los war, wissen viele Leute nicht"

Würden Sie diese Haltung als defätistisch bezeichnen, oder als realistisch? Immerhin war es überhaupt eine Leistung, sich zu verstecken. Die Franks dürften von der Existenz der Vernichtungslager ja nicht sicher gewusst haben.

Anne Frank (Lea van Acken, rechts) redete in ihrem Tagebuch schlecht über die Mutter. Edith Frank (Martina Gedeck, links) weihte die Helferin Miep Gies (Gerti Drassl, rechts) in ihre Gefühlswelt ein.

Anne Frank (Lea van Acken, Mitte) war kein Engel. Sie schrieb in ihrem Tagebuch viel Negatives über ihre Mutter Edith (Martina Gedeck, links). Diese weihte die Helferin Miep Gies (Gerti Drassl, rechts) in ihre Gefühlswelt ein.

(Foto: dpa)

Das Versteck war eine Leistung, und dennoch war Ediths Haltung realistisch. Denn natürlich wäre es besser gewesen, wenn die Franks in die Schweiz gegangen wären. Da hatten sie auch Verwandte. Aber Otto Frank wollte weiter seiner Arbeit in Amsterdam nachgehen. Er hatte sich dort etwas aufgebaut und war entschlossen, vom Hinterhaus aus weiter die Geschäfte führen.

Alle Filme, die es bisher über Anne Frank gibt, haben sie verklärt. Sie ist heute eine Heiligenfigur, die mit der echten Anne Frank wenig zu tun hat. Es war daher das erklärte Ziel von Regisseur Hans Steinbichler, die Franks erstmals als normale Menschen zu zeigen, die auch Schwächen haben. Was bedeutete das für Ihre Rolle der Edith?

Für mich war es die genau umgekehrte Herausforderung: Statt eine Heiligenfigur aus der Überhöhung herauszuholen, wollte ich einer unterschätzten Figur zu ihrem Recht verhelfen. Weil Edith Frank in der Wahrnehmung der Menschen eher undeutlich ist. Viele Leute haben ein Bild von Otto und von der Beziehung Ottos zu Anne. In den Darstellungen, die es von Edith gibt, wird sie oft zu eindimensional dargestellt, als jemand, der sich beklagt und depressiv ist.

Wie erklären Sie sich das?

Anne war 14, 15 Jahre alt, also genau in dem Alter, in dem man mit der Mutter auf Konfrontation geht. Das Kind löste sich von der Mutter ab. Insofern war es stimmig, dass Anne sehr viel Negatives über Edith in ihrem Tagebuch schrieb, oft richtig bösartig. In den bisherigen Büchern und Filmen über Anne Frank kommt Edith schlecht weg, denn alles was Anne über sie geschrieben hatte, wurde entsprechend umgesetzt. Wir haben versucht, gegen dieses stereotype Bild anzugehen und Edith als eine Frau zu zeigen, die an einem zivilisierten Familienleben festhält. Die äußere Form ist für sie wichtig. Es geht darum, sich die Würde nicht nehmen zu lassen.

Ist das etwas, was Sie sich nur vorgestellt haben, oder gibt es für diese Haltung Ediths auch Belege?

Natürlich arbeite ich auch mit meiner Vorstellungskraft, anders ist es gar nicht möglich, zu spielen. Aber es gibt auch überlieferte Zeugnisse. Neben dem Tagebuch Annes gibt es Aufzeichnungen von Miep Gies, die zu den vier Helfern gehörte, die die Familie Frank unterstützten. Darin hat sie Edith so dargestellt, wie ich es gerade beschrieben habe. Edith hatte wohl das Bedürfnis, sich Miep Gies anzuvertrauen und über ihre Ängste zu sprechen. Miep Gies beschreibt das als eine Tendenz zum Depressiven, von der ich eben glaube, dass Edith sie nicht an die große Glocke gehängt hat. Dieses Ringen um Haltung habe ich versucht darzustellen.

Die Geschichte der Anne Frank gehört in Deutschland zur Allgemeinbildung. Was haben Sie diesem kollektiven Wissen mit Ihrem Film neben der genannten menschlichen Erdung hinzufügen wollen? Gibt es auch an Fakten Neues zu erzählen?

Unsere Vorlage war ja das unredigierte Tagebuch (das 2001 veröffentlicht wurde; Anm. d. Red.). All die Passagen über ihre Sexualität, über ihre Abneigung gegen die Mutter, die in der ersten Tagebuchfassung herausgelassen wurden, tauchen in unserer Fassung auf. Ich glaube, dass viele gar nicht so viel über Anne Frank wissen, sondern eher ein Klischee im Kopf haben wie zum Beispiel von Jeanne d'Arc: 'Da gab es doch diese junge Frau, die hat ein Heer angeführt und den Krieg gewonnen.' So sagt man: 'Die Anne Frank, das war doch die, die zwei Jahre im Hinterhaus gewohnt und ein Tagebuch geschrieben hat und dann umgekommen ist.' Was da wirklich los war, was die Menschen umgetrieben hat, das wissen viele Leute nicht.

Anders ausgedrückt: Neu im Film ist die psychologische Dimension der Geschichte?

Neu ist vor allem, dass wir wirklich ein 15-jähriges Mädchen haben, das die Rolle der Anne spielt - nicht eine 20- oder sogar 28-jährige, wie das bisher immer der Fall war. Lea van Acken brachte das "An-der-Schwelle-des-Lebens-Stehen" mit. Sie war selbst an dem Punkt, an dem man sagt: 'Jetzt geht's los. Jetzt fängt mein Leben an - endlich. Ich kann raus.' Und das kann Anne eben nicht. Der Film versucht, aus der Innenperspektive des Mädchens zu erzählen, und nicht nur den Plot. Man sieht, wie sie die Dinge beobachtet, wie sie sie aufnimmt, und wie sie sie verarbeitet.

"Beengung kann man nur sichtbar machen, wenn es auch beengt ist"

Am Set wurde die Wohnung im Hinterhaus möglichst authentisch nachgebaut, mit dem Ziel, bewusst dieselbe Beengung zu erzeugen, die im echten Versteck herrschte. Sie haben wochenlang unter diesen klaustrophobischen Umständen gearbeitet. Wie war das?

Wir alle wollten uns in die Situation begeben. Ohne das zu übertreiben, aber auch ohne zu sagen: 'Wir machen jetzt hier die Wand raus, dann können wir uns frei bewegen.' Denn die Beengung kann man nur sichtbar machen, wenn es auch beengt ist. Wenn die Kamera plötzlich Riesen-Fahrten macht, dann hat man nicht mehr das Gefühl von Enge. Man muss also den engen Raum etablieren. Doch das war nicht das eigentlich Schwierige an der Situation.

Was dann?

Dass man den ganzen Tag herumsitzt. Man kann ein bisschen lesen und herumliegen, aber man hat buchstäblich nichts zu tun. Man darf nicht Radio hören, man darf keinen Lärm machen, man darf sich nicht laut unterhalten. Man hat sich ja auch nicht unbedingt viel zu sagen. Für uns Schauspieler, die wir gewohnt sind, dass es sich bewegt, dass man die Locations wechselt, dass man mal am Meer ist und dann in den Bergen, war das eine extrem seltsame Situation. Es war immer alles gleich - und es waren immer dieselben Leute, immer im selben Outfit, immer um denselben Tisch herum - über Wochen.

Haben Sie da nicht einen Lagerkoller bekommen?

Nein, denn es gab trotzdem genug zu tun. Die Szenen selber waren per se ja nicht besonders kompliziert. Da sagt sie das, und er sagt das. Das sind ja keine großen philosophischen Gespräche. Ich las die Szene und dachte mir: 'Das ist ja nicht so schwierig.' Doch dann drehten wir das zwei Tage.

Warum?

Weil der Regisseur Hans Steinbichler unvorstellbar viele Beziehungen herstellte: 'In dem Moment, in dem du das sagst, denkst du das und fühlst du das. Du weinst eigentlich, aber du willst dir nichts anmerken lassen.' Plötzlich entpuppte sich das als hochinteressante Szene, weil der Text gar nicht so wichtig war, aber alles was darunter lag umso mehr.

Immerhin konnten Sie abends schön Feierabend machen.

Normalerweise bin ich nach dem Drehschluss gerne alleine, aber da hatte ich das Bedürfnis nach Zusammensein. Tatsächlich war ich abends öfters mit den Kollegen aus.

Einer der eindrücklichsten Momente des Films ist die Szene, in der Ihnen der Kopf geschoren wird. Zunächst die Frage: Wurde er Ihnen wirklich geschoren, oder war das 3-D-Computergrafik?

Das haben wir so gedreht, in natura. Ich weiß gar nicht, ob man das heute mit dem Computer so machen könnte, ohne dass man das sehen würde. Und wenn: Wie viel das dann kosten würde, wie viele Millionen ... Aber das ist ja auch ein besonderer Moment, der für die Entleibung steht.

Es gibt eine ähnliche Szene in Stanley Kubricks Kriegsfilm "Full Metal Jacket", in der Rekruten der Kopf geschoren wird. Sie drückt den Verlust der Individualität aus, was zumindest in dieselbe Richtung geht. Dadurch aber, dass dieser Übergriff in Ihrem Film am Schluss und nicht am Anfang wie bei Kubrick steht, wirkt er noch monströser. Denn der Zuschauer kennt inzwischen diejenigen, denen das angetan wird. Dadurch wird ihm bewusst, dass dies auch jemand sein könnte, der ihm nahesteht.

Oder er selbst. Es ist gut, dass es dieses Bild geworden ist. Es zu finden, ist nämlich nicht einfach. Aber es ist die richtige Sequenz: Es wird ihnen alles weggenommen, und trotzdem bleibt da noch etwas. Das eigentliche Wesen dieser Menschen ist am Schluss vielleicht sogar noch deutlicher zu erkennen. Hätten wir die ganze Geschichte ihres gewaltsamen Todes bis zum Schluss erzählt, dann wäre das immer hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben. Wir können es uns nicht vorstellen, wir haben es nicht erlebt. Es würde immer aufgesetzt wirken.

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