Martin Walser zum 80. Geburtstag:Eine fabelhafte Figur, ein Wangenkneifer

Die Flanke offen und die Weichheit tollkühn ausgestellt: Ein Besuch bei Martin Walser, einem ewigen Verliebten, der zur Verschwendung neigt.

Ijoma Mangold

Martin Walser ist verärgert. Wütend auf sich selbst. Aber er kann seiner Wut nicht lautstark Ausdruck verleihen. Denn er ist erkältet und seine Stimme fast nicht mehr zu hören. Er weiß, bei welcher Gelegenheit er sich angesteckt hat. Und das ärgert ihn. Es hätte nicht sein müssen. Warum nur war er da nicht vorsichtiger! Und jetzt laboriert er seit zwei Wochen an dieser Bronchitis, völlig überflüssigerweise. Mist!

Martin Walser zum 80. Geburtstag

Martin Walser: Irgendwie ein drolliges Bild.

(Foto: Foto: dpa)

Aber den Interviewtermin hat er trotzdem nicht abgesagt. Statt dessen sitzt er auf dem Sofa seines Arbeitszimmers, unten schwappt der Bodensee an das Gartengrundstück, hat sich eine Pudelmütze über den Kopf gezogen, einen Schal um den Hals geschlungen, ein Fläschchen mit Tropfen gegen den Hustenreiz auf den Tisch gestellt - und flüstert. Irgendwie ein drolliges Bild.

,,Sie sind, kann das sein, kein guter Absager?'' Trotz stark zurückgenommenem Stimmvolumen ist Walsers Rede energisch und temperamentvoll: ,,Schweinerei, woher wissen Sie das?'', krächzt er mit heiserer Stimme: ,,Ja, das habe ich bei meiner Mutter nicht gelernt. Manchen Leuten sage ich wütend zu, weil ich einfach nicht nein sagen kann, aber ich bin wütend darüber.'' Er hustet.

Vielleicht, schlagen wir vor, gehören Erkältungen einfach zum Leben dazu? ,,Ach, komm, hör auf. Was alles dazugehört ...'' Und er schnauft, als wollte er sagen: ,,Man kann sich auch alles schönreden.'' Goethe, sinniert er dann, wollte immer den Eindruck erwecken eines Mannes, der sich durch nichts Körperliches niedermachen lässt. Und dann wandern Walsers Gedanken weiter zu Goethes letzter großer Liebe, zu Ulrike von Levetzow, um deren Hand der über Siebzigjährige noch einmal anhalten ließ. Walser schmunzelt.

Irgendwie gefällt ihm das. Gerade hat er wieder ,,Wilhelm Meisters Wanderjahre'' gelesen. Untertitel: ,,Die Entsagenden''. ,,Ja, er hat den Entsagenden gespielt, das war er seinem Edel-Ruf schuldig: Dass man im Alter sich nicht mit den Zähnen ins Leben verbeißt.'' Aber dann Ulrike ...

Martin Walser liebt sehr die nicht zu Ende geführten Sätze. Reden und Nachdenken muss nicht immer auf ein Resümee, ein Ergebnis hinauslaufen. Und der nicht zu Ende geführte Satz hat den Vorteil, dass er von den Worten in eine ausschwingende Armbewegung hinübergleiten kann, wozu Walser den Kopf hin und her wiegt, als schwinge auch dieser fort im Rhythmus des offengelassenen Gedankens. Ein Registerwechsel im Ausdrucksspektrum bei gewissermaßen gleicher Tonhöhe.

Überhaupt hat seine Art, über die Dinge zu reden, ihre Besonderheit. Man kann Martin Walser jede Frage stellen, auch solche, die gemeinhin als indiskret empfunden werden, solange man nicht eine bestimmte Form von die Dinge festzurrender Antwort erwartet. Solange das Gespräch frei schwingt und das Gesagte seine Mehrdeutigkeit behält, umkreist er jedes Thema zugleich bohrend und offenherzig. Journalisten allerdings, die ja, wie Walser es nennt, der ,,Etikettierbranche'' angehören, wollen diese Offenheit nur zu gerne zu gerichtsverwertbarer Eindeutigkeit reduzieren.

Wir wollen wissen, wie man kurz vor dem achtzigsten Geburtstag zurückschaut auf jene Freundschaften, die einmal das Leben ausgefüllt haben und dann doch auseinandergingen. ,,Fragen Sie das, weil Sie etwas zu wissen glauben?'', antwortet Walser mit offenem Blick. ,,Nein, weil ich etwas zu erfahren hoffe.'' ,,Ach, nein, das glaube ich nicht. Was soll daran interessant sein, wie Freundschaften bestehen oder nicht.''

Schwierige Männerfreundschaften

Und dann schweigt er. Aber wenn Walser schweigt, ist das nie ein sogenanntes betretenes Schweigen. Sondern immer ein produktives. Wenn er schweigt, kann man sicher sein, dass er gleich doch etwas sagt zu dem, was man wissen wollte. Sein Schweigen ist nie ein verschlossenes, sondern eines, welches das Gegenüber ins Auge fasst.

Und dann sagt er: ,,Soll ich mich um eine Antwort bemühen, von der ich weiß, dass sie ungenau, bürgerlich gesprochen unehrlich sein wird, und zwar weil es peinlich ist? Ich möchte mich sogar weigern, diese Freundschaften durch eine alles umfassende Beurteilung zu charakterisieren, das haben weder ich noch diese Freundschaften verdient.''

Und dann wiegt er wieder mit dem Kopf und er kaut mit geschlossenem Mund, als würde er schon einmal die Worte für sich vorschmecken, die er gleich entlässt. Hauptsächlich gehe es natürlich um Siegfried Unseld und Uwe Johnson. ,,Die Kräche mit Uwe'', sagt er. Trotz seiner heiseren Stimme tönt das warme, rollende R seines allemannischen Zungenschlags breit dahin.

,,Das muss man so stehen lassen. Es ist, wie viele Liebesgeschichten, eine unglückliche Geschichte geworden. Johnson hat mich am Ende als Testamentsvollstrecker eingesetzt und meiner Frau am Telefon gesagt, ich sei sein einziger Freund. Trotzdem hat er mich mit Siegfried betrogen. Das ist, wie wenn die Frau eines Angestellten mit dem Chef schläft.''

Ihre Freundschaften, fragen wir, kamen immer aus dem Berufsmilieu. Macht es das vielleicht schwieriger? ,,Nein, das macht es doch schöner. Das, was es schwierig macht, kann man gerne in Kauf nehmen durch das, was es schön macht. Meine schönen Zeiten mit Siegfried Unseld, wenn wir Ski gefahren sind oder Schach gespielt haben!''

Die Schwierigkeit mit den Männerfreundschaften läge woanders - ,,aber wir reden jetzt ganz im Allgemeinen ohne Anwendung auf einen konkreten Fall...'' Dass man sich nämlich nur sehr wenig sagen könne. Männerfreundschaften vertrügen keine Wahrheit. Wie viel Wahrheit könnten sich dagegen Eheleute ,,vor dem Bühnenbild der Eheoffenheit'' sagen und trotzdem zusammenbleiben! Männerfreundschaften krankten schon daran, dass beide Beteiligte Männer sind. ,,Ein Mann erwartet von einem anderen Mann so viel, was der von ihm auch erwartet, dass nicht beide gleichermaßen befriedigt werden können, und verzichten kann keiner.''

Dann kommt er wieder auf ,,die Kräche mit dem Uwe'' zurück: ,,Bei Eheleuten ist es das Tolle, wenn sie Krach haben, dann kommt die Wahrheit hervor. Das ist bei Männern nicht der Fall. Da kommt nur die Muskulatur zum Vorschein. Männer sind zur Wahrheit weniger geeignet als Frauen.''

Ja, überhaupt die Wahrheitsfrage. Wem kann man in welchem Maß die Wahrheit sagen? Walser mag dieses ,,Fahnen-Hiss-Wort'' nicht. Aber dann antwortet er doch: ,,Freunden kann man kaum eine Wahrheit sagen. Der eigenen Ehefrau schon eher. Und sich selbst? Ich würde sagen: Man kann sich selber so gut wie keine Wahrheiten sagen, wenn man nicht schreibt. Wer nicht schreibt, bleibt sich fremd.''

Vielleicht ist Walser jemand, dem es wichtiger ist, dass etwas ausgesprochen wird, als was ausgesprochen wird. Meinungen haben für ihn keinen hohen Stellenwert. Sie sind Akzidenz, gehören nicht zum Wesentlichen eines Menschen dazu. Was ein Freund politisch denkt und sagt, das könnte ihn nie stören. Umgekehrt ist ihm das natürlich häufig passiert, dass sich Weggefährten von ihm abwandten, weil sie seinen ,,Standpunkt'' in irgendeiner Sache nicht teilten.

Eine fabelhafte Figur, ein Wangenkneifer

Ob das sein Engagement gegen den Vietnam-Krieg war in den sechziger Jahren oder sein Unbehagen an der deutschen Teilung, wie er es in den achtziger Jahren formulierte. Danach hätten ihn die Menschen behandelt, als wäre er nicht mehr gesund. ,,Ich glaube nicht, dass eine Ehefrau ihren Mann aufgeben würde, weil er politisch anders denkt als sie. Männer sind vom Wesen her intolerant. Das Fremdwort Intoleranz kannst du übersetzen mit Männlichkeit. Männer sind durch ihre etwas ärmere Natur darauf angewiesen, immer recht zu haben. Ich bin selber auch ein Rechthaber auf anderen Gebieten.''

Martin Walser ist ein Näheproduzent. Mit wem er spricht, dem legt er die Hand auf die Schulter, massiert ihm den Nacken oder kneift ihm in die Wange. Dazu gehört auch ein grammatisches Du, das nichts mit Duzen zu tun hat. Die Wendung ,,Verstehst Du'' fügt er in jeden dritten Satz ein. Er ist ein Intensiv-Wahrnehmer und drückt das mit Händen und Füßen und Worten aus. Ein bisschen agiert er so immer wie ein verschwenderisch veranlagter Verliebter - was seine Umwelt naturgemäß enorm euphorisiert.

Ihr rechthaberisches Moment, fragen wir weiter, läge also vielleicht darin, immer darauf zu beharren, das, was ihre Empfindung ist, zum Ausdruck zu bringen. Walser: ,,Ja, das sowieso. Dabei ist mir das Recht-haben-Müssen zu einer peinlichen Bedingung einer intellektuellen Existenz geworden.''

Mit Walsers Friedenspreis-Rede muss es so gewesen sein. Denn was Walser 1998 zu den performativen Abnutzungserscheinungen einer streng und steril formatierten Erinnerungskultur gesagt hatte, ist heute längst ein Gemeinplatz. Aber es war dieser durch und durch persönliche Gestus, mit der Walser die Unschuld seiner eigenen Empfindung verteidigte und ins Zentrum rückte, die mit der Sphäre der öffentlich-repräsentativen Rede, der Ordnung des Diskurses auf staatstragendem Podium konfligierte.

Des elenden Recht-haben-Wollens muss Walser tatsächlich überdrüssig sein. In diesen Tagen erklärte er gegenüber dem Hamburger Abendblatt, er habe ,,völlig borniert reagiert'', als er Ignatz Bubis Ausgleichs-Angebot ausgeschlagen habe: ,,Ich hätte die Hände ausstrecken und danken sollen für dieses Frieden stiftende Angebot.'' Auch das ist echt walserisch: Sturheit und Zartsinn, Sanftheit und Hitzköpfigkeit in einer Person.

,,Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr'', das ist sein ,,Hausmachersatz'', wie er sagt. Und die ideale Form der Meinungsproduktion sähe für ihn so aus wie eine Art innerer Bundestag, wo man mit den besten Argumenten den eigenen Standpunkt profiliert - und dann mit ebenso starken Argumenten alles, was diesem widerspricht, vorträgt. ,,Die Zeitung, die so verfahren würde, die würde in einen Vertrauenssturm geraten, dass sie sich nicht mehr zu wehren wüsste.''

Aber weil Meinungen immer nur Einseitigkeiten sind, deswegen hält er nicht viel von ihnen. Einerseits. Andererseits war er auch noch nie um eine kräftige Meinung verlegen. Er weiß das und seufzt schmunzelnd: ,,Dieses edelste Abseits, das ich mit Hölderlin, Robert Walser und Kafka habe, das habe ich auf keinem anderen Gebiet. Im trivialsten Meinungssumpf bin ich immer mitenthalten. Ich konnte nichts vermeiden. Ich hätte meinen Gegnern durch nichts so schaden können wie durch Schweigen.''

Der Antisemitismus-Vorwurf

Stattdessen hat Walser es vorgezogen, seinen Gegnern stets die offene Flanke hinzuhalten. Ja, er ist überhaupt ein Mann der offenen Flanke, der absichtlich, ja tollkühn ausgestellten Weichheit.

Wir wollen wissen, wie er sich, als er ,,Tod eines Kritikers'' geschrieben hat, die Reaktion von Marcel Reich-Ranicki vorgestellt habe. Walser denkt nicht lange nach: ,,Ich habe es für eine Liebesgeschichte gehalten. Das, was dann passiert ist, war unvorhersehbar. Ich habe gedacht, Reich-Ranicki wäre geschmeichelt, weil ich die Figur so groß mache. Kennedy, Franz Josef Strauß, Chaplin - in diese Riege habe ich ihn gestellt. Wie bei Homer streiten sich die Städte darüber, wo er geboren ist. Eine fabelhafte Figur, ich liebe sie. Aber es hat alles nichts genützt, ich weiß auch nicht warum. Das gehört zu den großen Vergeblichkeiten.''

Damals entstand, publizistisch groß inszeniert, einer der größten Literaturskandale der Bundesrepublik. Im Zentrum: der Antisemitismus-Vorwurf. Noch immer, sagt Walser, könne er nicht begreifen, was damals passiert sei: ,,So wie es gelaufen ist, kann ich es nicht unterbringen in den Schubladen, in denen bei mir das Verständliche untergebracht wird. Aber ich habe auch Schubladen für Unverständliches.''

Als der ,,Tod des Kritikers'' im Suhrkamp Verlag erschien, lag Siegfried Unseld im Sterben. Nach seinem Tod war das Verhältnis zwischen Walser und Unselds Witwe zerrüttet, und Walser wechselte zum Rowohlt Verlag - unter Schmerzen, denn nun ist sein Werk auseinandergerissen, ein unerträglicher Zustand für jeden Schriftsteller. Doch wenn man Walser auf Alexander Fest, den Verleger von Rowohlt, anspricht, gerät er derartig ins Schwärmen, dass man nicht umhinkommt, sich zu erkundigen, ob sich da eine neue Männerfreundschaft anbahne? ,,Er ist zu jung'', repliziert Walser. ,,Andererseits, was mit Frauen möglich ist, sollte auch mit Männern möglich sein.'' Aber jetzt ist seine Stimme wirklich nur noch ein Hauch.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: