Martin Walser: "Ein liebender Mann":Die Leiden des alten Werthers

Er handelt Tag und Nacht mit der Aussichtslosigkeit: Martin Walsers neuer Roman schildert Goethes letzte Liebe und das altväterliche Schicksal eines reifen Dichters.

Joachim Kaiser

Martin Walsers Erzähler-Sympathie hat immer den Verlierern gehört, den Abhängigen und Scheiternden. Kein Wunder, dass er - als er sich nun doch nicht mehr um Goethe herumdrücken mochte, dem er einst fast so distanziert gegenüber stand wie dem anderen Olympier Thomas Mann - Goethes gewaltige, peinlich-groteske letzte Liebesgeschichte und größte Liebes-Niederlage zum Thema machte.

Martin Walser: "Ein liebender Mann": Ein rastloser Schriftsteller: Martins Walsers neuer Roman porträtiert Goethes letztes Liebesglück.

Ein rastloser Schriftsteller: Martins Walsers neuer Roman porträtiert Goethes letztes Liebesglück.

(Foto: Foto: dpa)

Also das Lodern des 73-Jährigen für die 19-jährige Ulrike von Levetzow. Diese Passion führte natürlich zur Katastrophe. Auch zum finstersten Fazit, das der Alte je dichtete: "Der ich noch erst den Göttern Liebling war; /... Sie drängten mich zum gabeseligen Munde / Sie trennen mich und richten mich zu Grunde".

Was bei Martin Walser sogleich entzückt, ist die Anmut seiner Schilderung. Man lässt sich bezaubert ein auf Liebes-Passion, Dichter-Gescheitheit, lebendigstes Zeitkolorit. Da übertrifft Walser, sprachmächtig, nicht nur sich selbst, sondern auch so manche berühmte Goethe-Schilderung der deutschen Literatur. Verglichen mit Walsers inspirierter Darstellung wirkt sogar Thomas Manns (freilich grandios endender) "Lotte in Weimar"-Roman in den Anfangskapiteln ein wenig manieriert, umständlich ironisch; imponiert Wolfgang Hildesheimers Goethe-Vergegenwärtigung in der fiktiven "Marbot"-Biographie nur als eine meisterhafte Imitation olympierhaften Spätstils; erscheint der brillante Goethe-Einakter von Peter Hacks "Charlotte Hoyer" (das war Goethes resolute Köchin) bloß fabelhaft kenntnisreich und witzig.

Unerfindbar, unnachahmlich

Im dritten, abschließenden Teil drängt sich gleichsam ein grimmiger Walserscher Goethe-Essay in den während der ersten beiden Teile so authentisch geglückten Verlauf. Diese Einschränkung darf aber nicht in der Weise missverstanden werden, Walser hätte seine Subjektivität, seine Kunst- und Lebens-Erfahrungen zunächst unterdrückt, verdrängt zugunsten eines objektiven, stimmigen Goethe-Porträts.

Selbstverständlich ist der neue Roman "Ein liebender Mann" (Rowohlt, Reinbek 2008, 288 Seiten, 19,90 Euro) von Anfang an eine unverkennbare Schöpfung Walserscher Spiritualität, Walserscher Bilder- und Übertreibungsfülle. Nur: Solange Martin Walser mit leidenschaftlichem Einfühlungsvermögen seinen Goethe als schwärmerisch entflammten, "liebenden Mann" vorführt, als werbendes Genie - solange überzeugt und bewegt die Darstellung. Es könnte immerhin so gewesen sein, denkt man auch bei gewissen massiven Unwahrscheinlichkeiten - etwa, wenn Walsers Goethe sich die Schubert-Vertonung von "Nur wer die Sehnsucht kennt" nachsingen hört, die Graf Klebelsberg soeben bei einer Tanzveranstaltung samt dem Schubertschen "Erlkönig" vorgetragen hat. (Wie hätte sich Schubert über Goethes Anerkennung gefreut.)

Da Walser gewiss keine brave historisierende Stil-Übung anbietet, nimmt man auch gelegentliche sprachliche Anachronismen vergnügt hin. Schließlich sagt in Thomas Manns "Joseph"-Tetralogie der junge Pharao während des entscheidenden Gottesgespräches zu seiner königlichen Mutter: "Hörst du, Mamachen?", was altägyptischer Ausdrucksweise auch nicht reinlich entspricht. Das stört genauso wenig, wie wenn Goethe bei Walser über seine "aufs Positive versessene Lebensroutine" sinniert. Denn: In welcher Weise Goethe einst gesprochen oder vor sich hin gedacht hat, das wissen wir nicht, ahnen wir höchstens. Da glauben wir Walsers flammendem Text nur zu gern. Doch wie Goethe schrieb, dafür existieren Millionen Zeugnisse und Beispiele. Goethes schriftstellerisch-dichterischer Rhythmus, Stil und Ton leuchten und leben. Unerfindbar, unnachahmlich.

Die fatale 73

Deshalb wirken die Goethe-Briefe an Ulrike, die Walser für den dritten Teil seines Romans imaginierte, seltsam Goethe-fern. "Ein Maler, Ulrike, der nicht malt, ein Schweizer in Weimar, also ein Verzweifelter" - das klingt heftig nach Walser und wenig nach Goethe. Goethes charmanter Trost im Brief an Ulrike vom 16. Oktober 1823: "Für den Einfall Ihrer Nase, kein Lineal sein zu wollen, sollten Sie ihr dankbar sein", mutet genauso "typisch" Walser-haft an, wie die abgründig witzige Briefreflexion: "Zum Glück ist die Aussichtslosigkeit keine unansprechbare Göttin. Ich handle Tag und Nacht mit ihr. Sie ist listig, ich bin auch nicht einfallslos. Ich denke nicht in jedem Augenblick an alles, was ich denken könnte. Diesen Gefallen darf man der Aussichtslosigkeit nicht tun".

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie Walsers Goethe das Frühstadium des Verliebtseins empfindet.

Die Leiden des alten Werthers

Goethe schrieb eben anders als Walser. Umso bewunderungswürdiger, faszinierender vermochte Walser, der 80-Jährige, die Sprachgebärde des alten Goethe zu vergegenwärtigen. Und zwar nicht in der unliebenswürdigen Weise, dass er die riesige weisheitsvolle Überlegenheit des Dichters über den Witz von drei lustigen, jungen, aristokratischen Mädchen zwischen 16 und 19 Jahren vorgeführt hätte. Sondern viel humaner, bezaubernder. Goethe akzeptiert nämlich lächelnd und verliebt, was die jungen Damen ihm munter zu sagen haben. So spricht er die drei Levetzow-Töchter gleich als liebenswürdigstes "Trio" an. Darauf korrigiert ihn die sechzehnjährige Amalie ziemlich kess tadelnd: "Wir sind überhaupt kein Trio, wir sind Einzelne, wenn's recht ist; Herr Geheimrat".

"Und ob mir das recht ist, sagte Goethe und sah wieder zu Ulrike hin". Er wandelt also die freche Korrektur der Jüngsten um in eine hochwillkommene Einladung zu personaler Liebe. Es folgen mannigfache beglückende Einfälle solchen Überschwangs der Verliebtheit. "Er spürte, in allem, was nicht mit ihr zu tun hatte, eine böse Sinnlosigkeit und Langeweile. Es tat immer weh, sich von ihr abzulenken. Aber dass, bis er sie wieder sah, höchstens Stunden vergehen mussten, machte alle Entbehrungen leicht".

Natürlich denkt Goethe auch über sein Alter nach. "Er hat sich gehalten. Sieht gut aus. Steht in hundert Zeitungen, dass er gut aussieht. Allerdings, wie die sich begeistert wundern über sein gutes Aussehen, das ist auch krass beleidigend. Noch lauter als die Hymne auf sein Immer-noch-Aussehen wird da immer: Dafür, dass du so ein alter Schleicher bist, siehst du noch ganz gut aus. In deinem Alter gibt es, wenn es ums Aussehen geht, nur noch die Beleidigung." So Goethe/Walser. Amouröse Euphorie hebt den Alten über alles hinaus: "Meine Liebe weiß nicht, dass ich über siebzig bin. Ich weiß es auch nicht." Aber ein scheußlicher, demütigender Sturz erinnert ihn während einer Ball-Festlichkeit schrecklich an die fatale 73.

Das Anfangstadium des Verliebtseins

Ulrike lacht laut über die Witze eines jungen, eleganten Schnösels. Es passt ihm nicht, er fragt sich: "Wollte er denn vorschreiben, worüber sie noch lachen durfte? Ja, sagte es automatisch in ihm. Das suchte er zurückzunehmen. Und kam sich heuchlerisch vor".

Einmal, wenn die mutig-frische Ulrike befürchtet, dem weltberühmten ÜberVater doch allzu unbefangen widersprochen zu haben, fragt sie beklommen: "Grollen Sie jetzt, Exzellenz?" "Ulrike, sagte er, im Augenblick wäre ich imstand, mein Leben für verpfuscht zu halten, weil ich Sie nicht hatte." Walsers Goethe macht sämtliche Jungmädchen-Spiele, Satzabkürzungsrituale der drei Schwestern vergnügt mit. Die Damen sind keck genug, ihn um einen Reim auf den Ortsnamen Elnbogen zu ersuchen. Er sogleich: "Bleibt mir immerfort gewogen".

Nichts ist schöner als das Anfangsstadium des Verliebtseins. Unvermeidlich gerät die unmögliche Beziehung dann rasch auf jene finster-tragische Bahn, wie die Goethe-Biographik sie beschreibt. Walser hält sich penibel ans Vorgegebene. Man spürt beklommen die Wut der Lieben in Weimar, nimmt erleichtert Zelters Hilfe zur Kenntnis, der seinen niedergeschmetterten Freund ins Leben zurückbringt. Nach der plötzlichen Abreise, welche die junge Levetzow-Mutter mit den Töchtern unternimmt, um peinliche Weiterungen zu vermeiden, ahnen wir erschüttert Goethes unaufhaltsamen Zusammenbruch.

Unschätzbare Andenken

Zu alledem fällt Walser Erstaunliches ein. Sogar über das Winken zum Abschied: "Aber Goethe konnte sich, wenn er winkte, nie des Gefühls erwehren, Winken minimalisiere den Abschied. Aber vielleicht ist das der Sinn des Winkens."

So ist Walser ein wunderschöner, liebes- und erfahrungsgesättigter, im Schlussteil nicht unproblematischer Roman gelungen. Ein Text voller Spiegelungen und Beziehungen, voller Einsichten auch über das Dichten selbst. "Hingegeben einem Gefühl, das noch keine Wörter kannte, ihn aber beim Wörterfinden unmissverständlich leitete". Nicht nur Walsers Buch heißt "Ein liebender Mann", sein Goethe notiert gleichfalls unter diesem Titel Bekenntnishaftes.

Das Entstehen der "Marienbader Elegie" - sie erscheint gegen Ende vollständig - wird zart antizipiert. Wer diese berühmte Altersdichtung manchmal doch ein wenig überformuliert gefunden haben mag, beschwert von allzuviel Sehnsuchts-Scholastik und strenger Verzweiflungs-Architektur, der liest die Elegie nun neu...

Martin Walsers Roman schließt herzbewegend mit einer Letzten Nachricht. Die Kammerzofe der erst 1900 hochbetagt gestorbenen Ulrike von Levetzow berichtet, die alte Dame habe wenige Stunden vor ihrem Tod Briefe auf einer silbernen Platte verbrennen lassen, damit nach ihrem Ableben dieses für sie unschätzbare Andenken in ihren Sarg gelegt werden könne.

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