Martin Scorseses neuer Kinofilm:Der Rattenfänger von Boston

Voll ausgelebte Aggression und Sexualität: Jack Nicholson ist in Scorseses großartigem Gangsterepos "The Departed" der Mann mit den am wenigsten verdrängten Problemen der Filmgeschichte.

Tobias Kniebe

Auf den ersten Blick sieht man das Räuber-und-Gendarmen-Märchen, den Gangsterfamilienfilm, der sich bis auf den Häuserblock genau lokalisieren lässt, in den Quartieren, Akzenten und Legenden der irischen Mafia in Boston. Ein Film von der Straße also, ein Scorsese-Straßenfilm wie zu besten Zeiten, eine Rückkehr auf das blutgetränkte Terrain seiner größten Erfolge.

Der zweite Blick enthüllt schon etwas anderes, ein kühles, temporeiches Strategiespiel, eine Lehrstunde aus Taktik und Täuschung, mit Maulwürfen und Doppelagenten, die eines Spionagethrillers würdig wären. Auf der nächsten Ebene wird dann die Sicht auf die Schauspieler frei, auf berstend vitale Nebenfiguren, auf Leonardo DiCaprio und Matt Damon in ihren bisher stärksten Rollen, auf Jack Nicholson, der aufdreht bis zum vollen Joker-Jack und es doch nicht schafft, den Film aus der Balance zu werfen.

Und so großartig das alles schon ist - das eigentliche Wunder von "The Departed - Unter Feinden" liegt noch eine Schicht tiefer, in den Feinheiten der Psychologie, die sich erst nach und nach enthüllen.

Ein teuflischer Plan

Der lange Atem, der große Plan, das ist der Ausgangspunkt der Geschichte. Frank Costello (Nicholson) mag im organisierten Verbrechen nur eine lokale Nummer sein, ein Schutzpatron, der noch jede Familie seines Viertels kennt - aber er zitiert gern Shakespeare und Joyce und denkt in großen Zusammenhängen. So umgarnt er den jungen Waisenknaben Colin Sullivan (Damon), lockt ihn weg von den Ministrantenpflichten in der Kirche, pflanzt ihm eine lebenslange Loyalität ein - und schickt ihn auf die Polizeischule. Kaum zehn, fünfzehn Jahre später erntet er die Früchte dieses teuflischen Plans: Sein Schützling legt eine schnelle Karriere in Uniform hin und wird einer Sondereinheit gegen die Mafia zugeordnet: Der Doppelagent in der Schaltzentrale des Gegners.

Doch auch Captain Queenan (Martin Sheen), Costellos Nemesis im Hauptquartier der Polizei, denkt langfristig. Aus den Abgängern der Polizeischule sucht er einen Kandidaten aus, der den Slums von South Boston und dem Einfluss seiner Mafia-Verwandten nur knapp entkommen ist: Billy Costigan (DiCaprio). Er wird die Bande unterwandern, um den Paten zu Fall zu bringen - und muss dafür erst einmal ins Gefängnis. Bald aber spiegelt sich das Schicksal der beiden Männer: Ihre Angst, ihr Leben in der Lüge, ihre ständige Selbstverleugnung.

Der Rattenfänger von Boston

Das Handy ist ihre Waffe und zugleich das Werkzeug, mit dem sie gefoltert werden: Die geheime Textbotschaft, das Codewort unter höchstem Druck - sie werden über Leben und Tod entscheiden. Irgendwann wissen sie auch, dass es den jeweils anderen geben muss. Und das Spiel geht in eine neue, gefährlichere Runde.

Der Plot beruht auf "Infernal Affairs", einem hochgeschätzten Hongkong-Thriller von Wai Keung Lau und Siu Fai Mak. Das Ausgangsmaterial ist dabei Segen und Fluch zugleich: Die Spannung ist nahezu eingebaut, ebenso die Parallelen zwischen Gangstern und Cops, dunklen Zwecken und geheiligten Mitteln.

Die Komplexität der Sache ist jedoch nur schwer zu bändigen. Je weiter das Spiel voranschreitet, desto unwahrscheinlicher wird es auch. Scorseses Autor William Monahan treibt das sogar über das Original hinaus: Der falsche Cop und der falsche Gangster verlieben sich in dieselbe Frau - die Psychologin Mandolyn (Vera Farmiga), die sowohl Polizisten als auch Ex-Kriminelle behandelt. Das klingt nach einer Falle, aus der kein Autor mehr herauskommt - aber Monahan fegt mit der Brillanz seiner Schnellfeuer-Dialoge, seinem dunklen Witz und der Wahrhaftigkeit seiner Figurenzeichnung einfach darüber hinweg. Unter den individuellen Triumphen des Films ist dies sicher einer der herausragendsten.

Wandelnde Dreckschleudern

Nach und nach, wie bei einem Puzzlespiel, finden alle Teile ihren magischen Platz. Man fragt sich zum Beispiel, warum zwei der Polizisten im Hauptquartier, die Nicholson jagen, ein so unglaublich aggressives Mundwerk führen. Dignam und Ellerby (wirklich sensationell gespielt von Mark Wahlberg und Alec Baldwin) sind wandelnde Dreckschleudern, die all ihren Vorurteilen, halbgaren Ansichten und Zoten selbst im Dienst freien Lauf lassen.

Das muss aber so sein, denn sie fungieren als Agenten der Wahrheit: Im Kontrast zu Matt Damon, der als Maulwurf immer mehr zum Monument der Falschheit erstarrt und so viel Repression und Lüge in sich hineinfrisst, dass er fast impotent wird, lassen sie alles raus und bleiben dadurch gesund. Besonders Dignam folgt einem eigentlich irrationalen, dennoch einzig richtigen Impuls: Er spürt die Lüge, kündigt spontan - und bereitet dadurch eine späte Rückkehr vor, einen Auftritt als letzte rächende Instanz.

Auf der Seite der Schurken wird diese voll ausgelebte Aggression und Sexualität von Nicholson verkörpert. Seit Costello seinen Mitschülern in der ersten Klasse das Taschengeld abnahm, macht er nur noch, was er will - mit Frauen, Drogen, Freunden, Feinden, egal. Nicholson hat hier keine andere Aufgabe als die, der Mann mit den wenigsten verdrängten Problemen der Filmgeschichte zu sein - was er als Hollywood-Legende vielleicht sowieso schon ist.

Deshalb passt ihm diese Rolle wie eine zweite Haut, und deshalb stehen sein Exzesse hier im Dienst einer größeren Sache. Costello lebt, so seltsam es klingt, in der reinen Wahrheit. Er tut, was er sagt. Er muss nicht lügen. Jenseits aller Moral hat er den Anspruch erfüllt, ein vollständiges Leben zu leben. Dass sich seine beiden ungleichen Ziehsöhne dann auch noch dieselbe - tolle, aber dennoch schwer verkorkste - Frau teilen müssen, während er die halbe Stadt vögelt, ist sein letzter Triumph, der Sieg einer alten Generation von Männern über eine neue, die ihre Identität nicht mehr finden kann.

Die Fragen der Identität schließlich, die dieser Film verhandelt, weisen weit über die Thriller-Verwicklungen an seiner Oberfläche hinaus. "Ich will meine Identität zurückhaben", verlangt DiCaprio gegen Ende von Damon, als sie sich endlich begegnen - aber nach all den Jahren als Scheingangster und Geheimcop weiß er schon längst nicht mehr, was das überhaupt sein könnte. "Ich soll mich selbst finden", sagt Matt Damon ein andermal zu Nicholson - als er beauftragt wird, den Maulwurf im Polizeihauptquartier aufzuspüren.

Was nicht nur ein ironischer Twist des Plots ist - um Selbstfindung geht es hier wirklich, diese Aufgabe zerrüttet die jungen Protagonisten, während Nicholson dafür nur angemessene Verachtung übrig hat: "Wenn jeder seinen eigenen Arsch hinaufschaut, wird schließlich niemand etwas finden", blafft er - und wenn es nach ihm geht, ist dies das beste aller denkbaren Ergebnisse. Irgendwie bringt es der Film sogar fertig, das passende Freud-Zitat dazu einzustreuen: Dass die Iren nämlich das einzige Volk seien, das sich gegen jede Psychoanalyse immun zeige.

Martin Scorsese, präzise und gelassen wie lange nicht mehr, wirft sich in diesen überbreiten Strom an Menschen- und Geschichtenmaterial und lässt den Dingen oft ihren freien Lauf. Man muss schon aufpassen, um die speziellen Tupfer zu sehen, mit denen er diesem Riesenfresko seine Handschrift einprägt und gleichzeitig seine Meisterschaft untermauert: Wenn DiCaprios Gesicht einmal von einem Mobile mit Dutzenden Spiegelscherben reflektiert wird, das Bild so zerrissen, wie er sich im Innersten fühlt; wenn sich in einer nächtlichen Gasse zwei expressionistisch verzerrte Schatten jagen - zwei Männer, die tatsächlich das Gesicht des jeweils anderen nicht kennen; und wenn Nicholson, während er von der Existenz der verräterischen "Ratte" spricht, wie nebenbei eine wunderbare Rattenzeichnung auf die Tischdecke malt.

Da weiß man, dass man noch längst nicht alles gesehen hat, was es hier zu sehen gäbe - und dass dieser Film mit jedem Betrachten weiter wachsen wird.

THE DEPARTED, USA 2006 - Regie: Martin Scorsese. Buch: William Monahan. Kamera: Michael Ballhaus. Musik: Howard Shore. Mit: Leonardo DiCaprio, Matt Damon, Jack Nicholson, Mark Wahlberg, Ray Winstone, Vera Farmiga, Alec Baldwin. Warner, 152 Minuten.

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