Martin Scorsese wird 70:Gewalttherapie mit der Kamera

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Er lebt das Kino so intensiv wie kein anderer: Martin Scorsese ist der Dokumentarist der dunklen Seite des amerikanischen Traums. Nun wird der besessene Filmemacher siebzig.

Susan Vahabzadeh

Ein Mann - Robert De Niro - tritt langsam aus einem Haus, steigt in ein Auto, und in dem Moment, da er den Zündschlüssel dreht, geht eine Bombe hoch - und wir hören Bachs Matthäus-Passion, während der Körper durch das Feuer der Explosion geschleudert wird, sich drehend, und das Feuer sich wandelt in die Lichtstreifen der roten Leuchtreklamen von Las Vegas. So beginnt "Casino", 1995, Martin Scorseses Film über Sam Rothstein, der sich mit der Mafia einließ, um sich die Stadt der Zocker untertan zu machen. Es ist einer dieser unfasslichen Momente, die Scorseses Filme unvergesslich machen.

Ein Zustand zwischen Wachen und Träumen, das ist das Kino für Scorsese. Wenn man so lebt, ist man verrückt, sagt er - so wie Travis Bickle, der Taxi Driver. Aber auf der Leinwand mischen sich Phantasie und Realismus. Scorsese ist vom Kino besessen, von dem das er selber macht so sehr wie von dem seiner Vorbilder in der Filmgeschichte. Einer, dessen Filme er besonders liebte, war Michael Powell - "Die roten Schuhe", von 1948, vor allem, und er schaffte es früh, die Aufmerksamkeit von Powell zu erregen, der sich seine ersten Filme in London zeigen ließ. "Er ist der Bauchredner und die Puppe", schrieb Powell über Scorsese, "the singer and the song."

Alles, was Scorsese machte, war immer persönlich, seine Arbeit war getrieben von dem Glauben, dass man nur das bewegend inszenieren kann, was einen selbst bewegt, von einer Lust an der Musik und von einem unglaublichen Teamgeist - er scharte langjährige Weggefährten um sich, die Cutterin Thelma Schoonmaker (die später Michael Powell heiratete), den Kameramann Michael Ballhaus, seine Lieblingsschauspieler - Robert De Niro, Harvey Keitel, Leonardo DiCaprio. Sein Kino ist auf Momente fixiert - jener, wenn das Bild sich in ein Negativ verwandelt in "Cape Fear", der Blick eines verwirrten Kinds durch ein Leintuch in "Kundun" -, ohne je manieriert zu wirken.

Eine Art Katharsis

Scorsese, aufgewachsen in einem Little Italy, das es nicht mehr gibt, beschrieb, was er sah in der Lower Eastside von New York. Es wurden gewalttätige Geschichten - als er einmal den "Taxi Driver" mit Publikum sah, ist er richtig erschrocken: "Als ich ihn machte, war ich nicht auf diese Reaktion aus, dass das Publikum das Gefühl hat: Ja, tu es! Lass uns rausgehen und jemanden umbringen. Die Idee war, eine Art Katharsis der Gewalt zu schaffen, so dass sie sagen Ja, töte, und sich dann klar werden: Oh mein Gott, nein. Wie in einer seltsamen kalifornischen Therapiesitzung." "Mean Streets", die Mafia-Saga "Goodfellas", "Casino" - das war die dunkle Seite des amerikanischen Traums, das war immer wieder sein Thema: "Jeder denkt, er kann schnell reich werden, wenn er es legal nicht schafft, versucht er es illegal."

Scorsese ging schon als Kind oft ins Kino - dort war er mit seinem Asthma gut aufgehoben. So wurde er dann ein praktizierender Filmhistoriker, der seine Crew erst mal alte Filme sehen lässt zur Vorbereitung (und nun auch nebenher mit seiner Film Foundation Restaurierungsarbeit großer Filme leistet). Die Stadt, die Typen, die er dort kennengelernt hatte, die Mechanismen der Gesellschaft und des Verbrechens - all das spielte immer wieder eine Hauptrolle bei Scorsese.

Als er längst der ungekrönte König des amerikanischen Kinos war - auch wenn die Academy, seine eigene Zunft, ihm den Oscar immer noch verweigerte -, veränderte sich seine Umwelt: Das neue, saubere New York war nicht mehr seine Stadt, man spürt das am deutlichsten in "Bringing out the Dead" (1999), in dem er die Straßen Manhattans zelebriert, wie sie nicht mehr waren.

Er machte sich nun daran, die Historie seiner Stadt zu erklären, mit "Zeit der Unschuld" und mit "Gangs of New York" - der war, mit seinem 100-Millionen-Dollar-Budget ein Aufbruch. Rivalisierende Gruppierungen von Immigranten, unter ihnen Daniel Day-Lewis und Leonardo DiCaprio, kämpfen um die Gang-Macht in New York, das geht zusammen mit dem Beginn einer Demokratisierung in der Stadt während des Bürgerkriegs - für dieses Epos sollte er - das galt als ausgemachte Sache - nun endlich den Oscar bekommen. Auch diesmal wurde nichts draus, immerhin aber hatte er nun einen neuen Lieblingsschauspieler gefunden: DiCaprio, der dann 2004 Howard Hughes spielte im Biopic "The Aviator".

Und der dritte Leo-Film, "The Departed", 2006, brachte dann endlich die ersehnte Trophäe, den Regie-Oscar. Ein idealer Moment war das nicht. Es war der letzte Film, den Ballhaus für Scorsese fotografierte, er war über siebzig, und hatte zudem den Dreh nicht besonders genossen: Jack Nicholson habe die Macht am Set an sich riss, Ballhaus fand's "deprimierend". Auch ein Regisseur wie Scorsese muss sich dem System der Starpower unterwerfen. Es hat sich nicht nur New York, sondern das ganze Filmgeschäft verändert: Die totale Freiheit und trotzdem ein großes Budget, wie es gerade noch Stanley Kubrick zur Verfügung stand - das gibt es heute nicht mehr.

Scorsese findet seine Freiheit immer wieder an anderer Stelle, regelmäßig macht er zwischen den großen Spielfilmen Dokumentationen: "Il mio viaggio in Italia" über den italienischen Neorealismus, die Musikfilme über die Helden seiner Generation und seiner Soundtracks: Die Stones, Dylan, George Harrison. Kleine Dokfilme hat er immer schon nebenher gedreht, in den Siebzigern die wunderbaren "American Boy: A Profile of Steven Prince" über einen Jugendfreund und "Italianamerican" mit seinen Eltern - das ist vor allem ein Dokument über Scorsese selbst, der aussieht wie sein Vater und spricht wie seine Mutter, in energiegeladenem Stakkato.

Martin Scorsese wird an diesem Samstag siebzig Jahre alt, er hat mehrere Projekte in Vorbereitung - "Sinatra"! -, und gerade dreht er, wieder in New York, "The Wolf of Wall Street", wieder mit DiCaprio, als Börsenmakler. Er dreht, nach der Erfahrung mit seinem 3D-Film "Hugo" vor zwei Jahren, nicht mehr auf Film, sondern digital. Es bricht also wieder ein neues Zeitalter an.

© SZ vom 17.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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