Süddeutsche Zeitung

Wiener Staatsballett: neuer Chefchoreograf:Einmal Himmel und zurück

Martin Schläpfer ist der neue Chefchoreograf am Wiener Staatsballett: Mit "4" zur Musik von Gustav Mahler gelingt ihm ein sensationeller Start.

Von Dorion Weickmann

Hundert Tänzer lösen sich vom Hintergrund der Wiener Staatsopernbühne. Schritt um Schritt gleiten sie in die ersterbende Musik hinein, in die letzten Takte von Gustav Mahlers 4. Sinfonie. Sie tragen ihre Körper der Rampe entgegen, bis sich nur noch die Hände bewegen: zur Stirn, zum Sonnengeflecht, eine Handbreit darüber, eine Handbreit darunter. Zuletzt formen horizontale Armkreise das Ewigkeitszeichen - die Ziffer 8. Es sind fantastische Bilder, mit denen sich Martin Schläpfers Ballett "4" in die Stille verabschiedet. Es gibt keinen Applaus bei dieser Premiere, kein Publikum. Die Tänzer, der Choreograf, die Sängerin Slávka Zámečníková, der Dirigent Axel Kober und das Orchester verbeugen sich schweigend. Für die fünf Kameras vor Ort und die Monitore weltweit. Der Sender Arte hat Schläpfers Einstandskreation als Ballettchef der Wiener Staatsoper live gestreamt und auch den Auftakt des Abends dokumentiert: Hans van Manens 1979 entstandenes Kammerspiel "Live". Bis Anfang März bleibt die Aufzeichnung in der Arte-Mediathek gespeichert. Und damit der Glanz einer Stille, die tief berührt.

Schläpfers tänzerische Übersetzung der Mahler-Sinfonie ein zweites, ein drittes Mal anzuschauen: Das lohnt unbedingt. Der Choreograf hat alle vier Sätze so schlüssig gebaut und berückend bebildert, dass sie endlose Assoziationsketten anstoßen. Er streift das Tanztheater der Pina Bausch ebenso wie die neoklassische Ästhetik eines George Balanchine. Er verweist auf die große Bildkunst von Antonio Canova bis Pier Paolo Pasolini, während Catherine Voeffrays elegante Couture in den Stargarderoben des 20. Jahrhunderts schwelgt - von Marlene bis Madonna.

Martin Schläpfers "4" ist ein Schicksals- und ein Schlüsselwerk

Vor allem aber fusioniert Martin Schläpfer Vergangenheit und Gegenwart, am augenfälligsten in Gestalt seiner leading ladies: Die enigmatische Yuko Kato hat er von seiner letzten Wirkungsstätte aus Düsseldorf mitgebracht, Rebecca Horner gehört seit 2017 der Solistenriege des Wiener Staatsballetts an. Schwesterlich schlurfen, springen, federn nun beide durch eine Choreografie, die nichts erzählt, aber dafür die menschliche Existenz orchestriert: in harmonischen und disharmonischen Körperklängen, in leid- und lustvollen Konstellationen.

Und doch gibt es Umschlag und Läuterung von antiker Dramenwucht. Den dritten, von Mahler als "Ruhevoll" deklarierten Satz intoniert Schläpfer mit einem Sisyphos-Bild: Männer, die gebeugten Rückens andere Männer daher schleppen - halb Liebende, halb Sterbende, die einander umarmen und danach umstandslos aus dem Paradies verstoßen. Nicht minder zerrissen gebärden sich vier weitere Paare, deren manipulative Erotik allein das einsame Ego entblößt. Selbst der Walzerrausch dient schierer Blickfängerei, bis ganz zuletzt, schon am Übergang zum Finale, ein Engelssextett die Erlösung bringt: mit einer einzigen sanften Berührung.

Martin Schläpfers "4" ist ein Schicksals- und ein Schlüsselwerk. Es spiegelt die Zerbrechlichkeit des Daseins, die uns seit der Pandemie hautnah begleitet. Und es zeigt den Tanzautor im Zenit seiner choreografischen Beredsamkeit. Die Wiener haben ganz zweifellos ein Glückslos gezogen.

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