Süddeutsche Zeitung

Martin Schläpfer, Choreograf:Spitzenschuhästhetik

Der schweizer Großmeister beginnt seine letzte Spielzeit beim Ballett am Rhein mit einer Uraufführung.

Von Dorion Weickmann

Kein Anzug, keine Lackschuhe, kein Blumenbouquet für die Kompanie. Die Premiere des Ballettabends "b.41" endet im Düsseldorfer Opernhaus ohne jedes Brimborium. Im Existenzialisten-Outfit (schwarzer Rollkragenpullover, schwarze Hose) tritt Martin Schläpfer, Chefchoreograf des Ballett am Rhein, vor das Publikum, dem er zehn Jahre lang ein Highlight nach dem anderen beschert hat. Die Arbeitsmontur signalisiert Abschied und Aufbruch. Mit der Uraufführung seines "Cellokonzert" hat Schläpfer soeben den vierteiligen Abend aus- und zugleich seine Schlussrunde eingeläutet. Kommenden Sommer endet seine erfolg- und ertragreiche Tanzdirektion mit Doppelmandat für Düsseldorf und Duisburg. Dann zieht Schläpfer in die Promi-Liga zum traditionsreichen Wiener Staatsballett. Was hinterlässt er im Rheinland?

Schläpfer, 1959 im Schweizer Kanton St. Gallen geboren, hat ein glanzvolles Kapitel deutscher Ballettgeschichte geschrieben. Dessen solitäre Machart lässt sich an "b.41" noch einmal bestaunen. Da gleitet der Zuschauer zunächst mit Jirí Kyliáns "Forgotten Land" in eine Seelenlandschaft, wie von Edvard Munch gemalt. Schritt um Schritt um Schritt, so nähern sich die Tänzer der Meeresbrandung, die John MacFarlane in düsteren Nuancen an den Bühnenhorizont gesetzt hat. Bald schälen sich Einzelne, dann Paare aus dem Pulk. Weite Spagatsprünge sprengen die Szene, delikat verzweigte Raummuster erzeugen ein atmendes Auf und Ab, ein Mit- und Auseinander bewegter Körper.

Phänomenal zu sehen, wie Kylián jeder Figur zu sprachlicher Eigenheit verhilft, ohne sie je der Einsamkeit auszuliefern. Er bündelt die Streuenergien und spiegelt ihre Dynamik in den Grundelementen der Choreografie, in Achterschleifen und Kreisgebilden. Benjamin Brittens "Sinfonia da Requiem", von den Düsseldorfer Symphonikern feinsinnig orchestriert, verleiht dieser fast vierzig Jahre alten und dennoch zeitlos schönen Tanzelegie ein Kolorit zwischen attischer Tragödie und NYC-Blues.

Mit Martha Grahams "Lamentation" und "Steps in the Street" folgt ein Zeitsprung in die 1930er-Jahre, zur Wiege der Tanzmoderne: strenge Gebärdenplastik, dramatisch und charismatisch zugleich. Nicht umsonst hat Martin Schläpfer die historischen Wegweiser vor sein eigenes "Cellokonzert" platziert. Sobald der Vorhang aufgeht, fällt der Blick auf ein mythisches Labyrinth. Die Todesgewissheit, die schon Kyliáns "Forgotten Land" und Martha Grahams "Lamentation" verschattet hat, verdichtet sich nun zum Fluchtpunkt der Inszenierung. Eine Reverenz sind auch die plissierten, bordürenverzierten Gewänder, die auf Grahams Originalentwürfe für die Minotaurus-Saga "Errand into the Maze" (1947) verweisen. Solche Anspielungen liegen ganz auf Schläpfers Tanzlinie. Schließlich zitiert kein anderer Choreograf so virtuos die epochalen Signaturen des Fachs, niemand sonst verarbeitet das klassische Erbe so beherzt und behutsam zugleich. Das Ergebnis ist eine zeitgenössische Spitzenschuhästhetik. Schläpfer hat sie über alle Stationen seines Wirkens hinweg in Bern, Mainz und Düsseldorf-Duisburg angelegt und verfeinert.

Dieser Künstler neigt nicht zu monomanischen Exzessen, sondern zur Sammelleidenschaft

Mit Eleganz und Bescheidenheit besticht auch das "Cellokonzert". Es ist ein Dankeschön an die eigenen Tänzer, die Weggefährten langer Jahre und ein Tribut an die Tanzgötter. Wie ein Zauberer zieht Schläpfer alle erdenklichen U- und E-Spielarten des Fachs aus dem Hut, von Charleston über Broadway-Schwünge bis hin zur erzakademisch steifen Attitüde. Dazu blitzen Wunderwerke auf, erstrahlen Kometen aus George Balanchines "Apollon" und "Serenade", aus Vaslav Nijinskys "Nachmittag eines Fauns" und Michail Fokins "Sterbendem Schwan", gefolgt von einem romantischen Fräulein-Ballet, hier ausnahmslos männlich besetzt. "Cellokonzert" ist ein verführerisches Puzzlespiel, so polyphon wie Dmitri Schostakowitschs Komposition, die Schönheit und Schrecken des 20. Jahrhunderts in sich birgt. Ein Schläpfer-Finale nach Maß.

Dieser Künstler neigt nicht zu monomanischen Exzessen, sondern zur Sammelleidenschaft. Binnen eines Jahrzehnts hat Schläpfer an der Rheinoper ein einzigartiges Repertoire zusammengetragen. Von der Neoklassik über die Vorhut des Modern und Postmodern Dance aus New York bis hin zu Hans van Manens niederländischen Geniestreichen verfügt das 45-köpfige Ensemble über eine Stilpalette in allen Farben des Regenbogens. Eine Bilanz, die der Chef kaum mehr toppen kann. Insofern ist sein Weggang so konsequent wie die gewählte Exit-Strategie: karrieretechnische Mischung aus Maximalchance und Maximalherausforderung. Alle Welt weiß, dass mit der Wiener Elitetruppe nicht unbedingt gut Kirschen essen ist. Die angeschlossene Akademie geriet erst kürzlich durch Machtmissbrauchsvorwürfe in Verruf. Trotzdem lockt die Mission, weil die im Edelklassikdauerbetrieb vernutzten Ballettbatterien an der Wiener Staatsoper schon lange einer Neuaufladung harren.

In Düsseldorf und Duisburg wird derweil Demis Volpi das Ruder übernehmen: knapp halb so alt wie Schläpfer, auf Erzählstoffe abonniert. Etliche Tänzer will er wohl übernehmen, ein paar treten mit Schläpfer die Reise gen Süden an. Bis April wird an der nächsten Saison getüftelt, in Düsseldorf und in Wien. Was die Zukunft bringen wird? Wenn Wünschen hilft: lauter tollkühne Überraschungen!

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Quelle:
SZ vom 27.11.2019
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