Foto-Chronist der Britishness:Die Komik des Tragischen

Foto-Chronist der Britishness: Frau beim Sonnenbad am Strand von Knokke, Belgien, 2001.

Frau beim Sonnenbad am Strand von Knokke, Belgien, 2001.

(Foto: Martin Parr/ Magnum Photos/Agentur Focus)

Seit Jahrzehnten arbeitet der Brite Martin Parr an einem Doku-Panorama seiner Heimatinsel. Seine bonbonbunten Bilder sind stets vom Verständnis für Sehnsucht nach Identität geprägt. Jetzt wird der Fotograf 70 Jahre alt.

Von Alexander Menden

Vor fünf Jahren bat der Guardian Martin Parr, ein Lieblingsfoto aus seinem eigenen Œuvre herauszusuchen. Parrs Wahl fiel auf ein Bild vom August 2016: Eine lange, mäandernde Warteschlange am Strand bei Penzance in Cornwall: Menschen, die auf ein Boot warten, das sie zur kleinen Insel St. Michael's Mount bringen soll. "Es war ein heißer Tag, wenn auch kein strahlender Sonnenschein", erinnerte Parr sich. "Die Briten sind absolute Meister im Anstehen. Ich fand es gut, den Sommer, den Strand, die Warteschlange und die Insel im Hintergrund in einem Foto zusammenzufassen."

Was der Fotograf tatsächlich zusammenfasste, war und ist aber das, was gerne als "Britishness" bezeichnet wird. In diesem Fall die ergebene Geduld des Ausharrens, die Stimmung eines windigen Urlaubs an der englischen Küste, die Selbstvergewisserung im Aufsuchen symbolträchtiger landmarks - in diesem Fall eine Burg auf einer winzigen Insel. Mit Ambivalenz, schonungslos, aber nie denunzierend, hat er die Klischees seines Heimatlandes betrachtet und dabei im Laufe der Jahrzehnte ein bonbonfarbenes Doku-Panorama britischer Alltagszenen, Exzentrismen und Exzesse geschaffen.

Martin Parr wurde 1952 in Epsom in der englischen Grafschaft Surrey geboren. Sein Großvater George, selbst begeisterter Amateurfotograf, förderte schon früh Martins Interesse am Fotografieren. Parr studierte von 1970 bis 1973 Fotografie an der Manchester Polytechnic. Nach seinem Abschluss arbeitete er drei Monate lang beim Manchester Council for Community Relations, hatte aber schon bald seine erste New Yorker Ausstellung, "Home Sweet Home".

Foto-Chronist der Britishness: Martin Parr.

Martin Parr.

(Foto: Collection Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus)

Parr untersuchte, zunächst noch in Schwarz-Weiß und orientiert an Vorbildern wie Peter Mitchell und William Eggleston, die ländliche Bevölkerung von Yorkshire, in der Umgebung von Manchester und in Irland. 1982 vollzog er dann einen radikalen Schritt: Für das Projekt "The Last Resort", mit dem er Urlaubsgewohnheiten der englischen Arbeiterklasse im heruntergekommenen Seebad New Brighton dokumentierte, wechselte er zur Farbe. Von da an waren hochgesättigte, stark ausgeleuchtete Mittelformatbilder Parrs Look.

Einige Kritiker, die Parrs Bilder von Menschen mit Miniplis und Neon-T-Shirts auf Promenaden und Autoskootern zur arroganten Bloßstellung erklärten, verstanden nicht, dass Parr hier keine Wertung vornahm. Es ging nicht um die Verächtlichmachung englischer Seebäder oder der Arbeiterschicht, sondern um die Draufsicht auf Milieus und ihre oft unreflektierte Selbstwahrnehmung.

Der Brexit war für ihn eine besonders reichhaltige, wenn auch persönlich nicht besonders erfreuliche Inspirationsquelle, denn hier traf der Wille, eine vermeintliche nationale Kontinuität fortzuführen, auf die Realität einer sich verändernden Welt. Genau diese oft verunsichernden Veränderungen hat Parr im Laufe der Jahrzehnte beobachtet und festgehalten.

"Was ich in diesen Fotos von Anfang an spürte, war eine Ambivalenz gegenüber den Themen, die ich teilte", hat der Künstler Grayson Perry einmal über Parrs Arbeiten gesagt. "Wenn ich mir Bilder von Damen aus dem Landadel ansehe, die sich am Kuchenbüffet vollstopfen, von Touristen, die in Klischees gefangen sind, von betrunkenen Nachtschwärmern und von der fröhlich-grimmigen britischen Arbeiterklasse, dann scheinen sie alle unangenehm zwischen Komödie und Tragödie zu schweben."

Foto-Chronist der Britishness: English Breakfast am Strand von Dorset, 1996.

English Breakfast am Strand von Dorset, 1996.

(Foto: Martin Parr/ Magnum Photos/Agentur Focus)

Tatsächlich ist das in geradezu nuklear strahlenden Farben eingefangene Full English Breakfast mit Spiegelei, Bohnen und Speck ebenso Teil des britischen Parr-Mosaiks wie gelangweilte alte Damen unter der Trockenhaube beim Friseur und das patriotische "British and proud"-Hals-Tattoo. Aber auch Upperclass-Menschen, die sich bei der Chelsea Flower Show auf ein Tablett mit Käsehappen stürzen, oder eine Fotosequenz, in der eine Reihe von Besuchern alle an derselben Rose riechen, gehören dazu. Das Gefangensein in klassenspezifischen Codes, das Aufeinandertreffen von Selbstmythisierung und ernüchternder Realität, all das hat niemand so konsequent, mit einem derart scharfen Blick für absurde Details ins Bild gebracht wie Martin Parr.

Seine jüngste Ausstellung, die erste seit seiner Krebsdiagnose im vergangenen Jahr, wird in der OOF Gallery gezeigt, die Teil des Stadions von Tottenham Hotspur ist. Sie präsentiert eine Zusammenstellung von Bildern, die von den Siebzigerjahren an in und um Fußballstadien entstanden. Fußball erfülle in der britischen Gesellschaft eine bedeutende Funktion, sagt Parr. Er helfe Menschen, vor allem Männern, Zugang zu ihren Emotionen zu finden. Und er sei "sehr tribalistisch und wichtig für die Schaffung einer eigenen Identität".

Diese selbstgebaute Identität infrage zu stellen, das ist seit mehr als einem halben Jahrhundert Martin Parrs Auftrag an sich selbst. Doch der oft kompromisslose Blick hinter die britische Identitätsfassade ist stets gepaart gewesen mit einem tiefen Verständnis für das Bedürfnis nach dieser Fassade. Eine Mischung, die seine Arbeiten nicht nur zutiefst britisch, sondern vor allem zutiefst menschlich macht. An diesem Montag wird Martin Parr, dem im vergangenen Jahr der Titel "Commander of the British Empire" verliehen wurde, 70 Jahre alt.

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