Wissen ist ein zartes, von Verlust und Zerstörung bedrohtes Gut. Uns mag diese Sicht befremden. Wir leiden eher an Informationsüberfülle oder daran, dass sich auch noch der dümmste Gedanke irgendwo in den unendlichen Weiten der Öffentlichkeit unterbringen lässt und gespeichert wird. In der Frühen Neuzeit verhielt sich dies anders. Die Grenzen des Sagbaren waren enger, die Publikationsmöglichkeiten bei aller Dynamisierung des Medienbetriebs geringer, das Risiko höher, dass eine Handschrift oder ein Druck in kleiner Auflage für immer verloren ging oder gezielt vernichtet wurde - wenn es schlecht lief gleich gemeinsam mit dem Autor.
Der Ideenhistoriker Martin Mulsow hat in seinem letzten Buch dafür den Begriff des "prekären Wissens" geprägt. Diese Gefährdung von Wissen hatte viele Gründe. Der Inhalt von Schriften konnte Machthabern politisch oder theologisch gegen den Strich gehen und zensiert werden; die Postwege waren unsicher; und bisweilen fehlten Zeit, Fähigkeit oder schlicht die Lust, Materialsammlungen in eine überlieferungsfähige Form zu bringen.
Damit Mulsows eigene Studien dem Schicksal des Wissensprekariats entgehen, liegt nun seine lange vergriffene Habilitationsschrift von 2002 in einer leicht überarbeiteten Version vor. Zusätzlich hat er die Materialien, die er damals bereits für einen zweiten Teil im Blick hatte, gesichert und als Fallstudien ausgearbeitet: zur Debatte um die Sterblichkeit der Seele, zur Aufwertung der Natur, zur Vermenschlichung der großen monotheistischen Religionsstifter oder zu den naturrechtlichen Wurzeln des Skeptizismus. Als Mulsows Forschungsprojekt vor etwa 25 Jahren startete, gab es den titelgebenden Begriff der "radikalen Aufklärung" zwar bereits, für die Epochenkonstruktion aber war das Konzept von eher randständiger Bedeutung. Seitdem hat sich in der Forschung die Perspektive nachhaltig verschoben. "Aufklärung" kann ohne ihre extremistische Seite nicht mehr gedacht werden, und zwar auch in Deutschland, wo die "Moderaten" mehr als in England oder Frankreich den Ton angaben.
Das liegt nicht zuletzt an Jonathan Israels monumentalen Studien zu "Radical Enlightenment". Israel erzählt darin eine neue große Geschichte. Die wesentlichen Impulse für die Radikalen gingen demnach von Spinoza aus. Sie entwickelten die wirklich wertvollen Gedanken der Aufklärung, die für die modernen Errungenschaften eines freien Lebens in einem säkularen und demokratisch organisierten Gemeinwesen sorgten. Dieser Heroengeschichte setzt Mulsow ein anderes Bild entgegen. Bei ihm spielen Zufälle eine große Rolle, ungewollte Effekte und ungeplante Begegnungen. Es geht um extrem verschlungene Beziehungen, Einflüsse und Überlieferungswege. Die Gedankenschritte können nach vorn gehen, aber auch zurück, zur Seite oder irgendwie schräg und in Kurven verlaufen. Die List der Vernunft lässt sich nicht auf den Nenner einer linearen, teleologischen Erzählung bringen.
Die radikale Aufklärung kannte viele Spielarten: Atheisten und Materialisten zählten dazu, denen Spinozisten auf dem Fuß folgten. Zum Lager der Radikalen gehörte man, wenn man die göttliche oder menschliche Handlungsfreiheit bestritt (Determinismus und Fatalismus) oder wenn man umgekehrt dem Menschen zu große Handlungsmacht zubilligte und ihn auch ohne göttlichen Beistand für lebensfähig erklärte (Naturalismus). Riskant waren religiöse und konfessionelle Neutralität (Indifferentismus), der Verzicht auf die Offenbarung zugunsten eines vernünftigen Glaubens (Deismus) oder die Entgrenzung der Gedankenfreiheit (Freigeisterei).
Viele dieser Ideen existieren schon länger, aber nur, um souverän widerlegt werden zu können und die Überzeugungskraft der Orthodoxie zu belegen. Dieser Konsens bröckelte zusehends. Kompliziert wurde die Lage zudem dadurch, dass nicht allein religionskritische Positionen als gefährlich galten, sondern auch die Überzeugungen von Frömmigkeitsbewegungen, etwa des radikalen Pietismus, oder anderer Religionsströmungen, die nicht ins konfessionelle Schema passten. Hier kämpfte nicht einfach die Vernunft gegen den Glauben oder Philosophie gegen Theologie. Die Konflikte kannten keine eindeutige Gegnerschaft und keinen klaren Frontverlauf. Es handelt sich vielmehr um eine explosive Mischung von gut gemeinten Ideen, riskanten Gedankenexperimenten, übermütigen Scherzen und trotzigen Provokationen.
So erklärte etwa der Thomasius-Schüler Theodor Ludwig Lau: "Ich glaube, dass Gott der Urheber und Schöpfer der ganzen Welt sei und dass ich ein von ihm erschaffenes Geschöpf bin." Gleichwohl galt er als Atheist, wurde 1719 in Frankfurt inhaftiert und griff der Gerichtsverhandlung vor, indem er sich im Kerker mit einer Zange die Pulsadern aufriss - eine zeitgenössische Flugschrift berichtete, der Teufel habe sich seiner bemächtigt. In seinen philosophischen "Meditationen" entwickelt Lau eine radikal herrschaftskritische Position, welche die Kirche nur als Instrument der Machtstabilisierung auffasste. Er fügte jedoch hinzu, dass mit einer Wiederkehr des ursprünglich herrschaftsfreien Zustands nicht zu rechnen und dass dies auch nicht wünschenswert sei.
Laus Rhetorik war durchaus typisch für "Techniken der Distanznahme". Denn er selbst präsentierte sich als Eklektiker, der bereits vorhandene Gedanken aufgriff und bündelte. In seinen Schriften übernahm er die Rolle eines Heiden, privat aber verstand er sich als gläubiger Christ. Lau stellte Alternativen zur Verfügung, ohne dass dies gleich als radikaler Angriff auf die etablierten Glaubensbestände hätte aufgefasst werden müssen.
Die Aufklärer machten sich radikales Gedankengut also sehr unterschiedlich zu eigen. Es gab den seltenen Typus des offen Radikalen, der für seine Positionen persönlich eintrat und die Konsequenzen akzeptierte; den verbreiteten Typus des verdeckten Extremisten mit moderatem Stand- und radikalem Spielbein, der verschiedene Strategien der Tarnung und Chiffrierung benutzte; den scheinbar Radikalen, der sich zu Unrecht verdächtigt fühlte; und auch den ungewollt Radikalen, der traditionelle und etablierte Gedankensysteme eigentlich zu stützen versuchte - tatsächlich begannen viele spätere Häretiker mit dezidiert moderaten oder sogar orthodoxen Absichten, aber ihre Argumente entwickelten ein Eigenleben.
Manchmal infizierten die randständigen Ideen dann ein ganzes Gedankengebäude, sodass es mit einem intellektuellen Doppelleben nicht mehr getan war. Diese Ansteckungsgefahr und das Potenzial, das unter Umständen in einer Formulierung steckte, wurden immer wieder als eigentliche Gefahrenquelle beschworen. Aus der Perspektive einer Hermeneutik des Verdachts reicht das prekäre Wissen weit in die scheinbar sicheren Zonen hinein. Damit trugen die "Ketzermacher" ihrerseits zur Radikalisierung bei, indem sie die Konsequenzen aus bestimmten Gedankengängen aufzeigten und damit das extremistische Potenzial erst zur Geltung brachten.
Mulsows Anteilnahme gehört insbesondere jener zerstreuten Menge intellektueller Einzelkämpfer, die philosophiegeschichtlich in der zweiten oder dritten Reihe stehen. In scheinbar abwegigen gelehrten Debatten erkennt er die "Hahnenkämpfe der Aufklärung", die wie die berühmten "balinesischen Hahnenkämpfe" der Ethnologie in dichten Beschreibungen zum Schlüssel fremder Gesellschaften werden. In seinen ungeheuer gelehrten, überraschenden Untersuchungen bringt er die ganze Komplexität von "Denkräumen" zur Geltung. Seine Studien sind empirisch breit fundiert und verfahren gleichwohl oft mit höchst spekulativem Scharfsinn, weil im Bereich des prekären Wissens viele Informationen verloren gegangen sind und erschlossen werden müssen.
Ein Missverhältnis bleibt allerdings: Rund 920 Seiten an Fallstudien stehen fünf Seiten "Zusammenfassung" entgegen. Wie aber soll die überbordende Fülle an Einsichten und Erkenntnissen von der künftigen Forschung verarbeitet werden? Vor sechs Jahren hatte Mulsow in seinen Überlegungen zum "Prekären Wissen" zwei Syntheseangebote gemacht: eine "Geschichte der Freiheit" und eine "Geschichte der Sicherheit". Diese Geschichten würden wir jetzt gern lesen.
Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680 - 1720. Band 1: Moderne aus dem Untergrund. Band 2: Clandestine Vernunft. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. Zusammen 1126 Seiten , 59,90 Euro