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Martin Luther und sein Antisemitismus:Gespenstische Bilder

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Wie wurde der Reformator zum geifernden Scheusal? Dietz Bering untersucht Martin Luthers Antisemitismus - macht den Fehler, die Judenfeindlichkeit des Reformators im Horizont einer deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte zu behandeln.

Von Thomas Kaufmann

Das Thema "Luther und die Juden" findet derzeit ähnlich große Aufmerksamkeit wie sonst nur Themen der Zeitgeschichte. Recht betrachtet, ist es auch in diesem Fall nicht das 16. Jahrhundert, sondern die jüngere und jüngste Vergangenheit, die in den Bann zieht.

Der vor allem durch die Geschichtspolitik des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus unheimlich präsent gewordene "stiernackige Gottesbarbar" (Thomas Mann) wirkt als faszinierend-verschreckende Inkarnation deutschen Wesens nach. Bei keiner anderen Gestalt der deutschen Geschichte ist es so nötig, sie beharrlich zu historisieren und sie in die Schranken ihrer eigenen Epoche zu weisen.

Vor allem die Wirkungsgeschichte des Judenfeindes Luther im "Dritten Reich" ist es, die literarische Akteure auf die Walstatt lockt, die weder professionelle "Lutherforscher" noch "Reformationshistoriker" sind. Der Autor des hier anzuzeigenden Buches hat sich bisher vornehmlich in der Literatur- und Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bewegt.

Dass hier, aber auch nur hier seine Stärken liegen, ist unübersehbar. In den den "historischen Luther", das heißt die Gestalt des 16. Jahrhunderts, betreffenden Passagen des Buches, liefert Bering eine um Gemeinverständlichkeit bemühte Zusammenfassung der intensiv studierten und extensiv ausgeschriebenen Sekundärliteratur.

Wandlung zum geifernden Scheusal

Wie anderen Autoren, die sich mit dem Thema abgequält haben, geht es auch Bering im Kern um die Frage, wie die Wandlung des im Jahre 1523 "judenfreundlichen" jüngeren Reformators zum geifernden Scheusal der 1540er-Jahre zu erklären ist, der in den Juden Abschaum, fleischgewordene Teufel, zu vertreibende Christus- und Christenfeinde sah.

Als Antwort hat Bering einen universalen Erklärungsschlüssel parat: die Kontrastbetonung. Damit ist ein aus Psychologie, Biologie, Literatur, Philosophie, Verhaltensforschung, überhaupt der menschlichen Erfahrung bekanntes Reiz-Reaktions-Schema gemeint: dass Personen und Gruppen, die sich besonders nahegekommen sind, aufgrund bestimmter Umstände oder gar traumatischer Entzweiungen Abgrenzungsidentitäten ausbilden und ihr eigenes Wesen in scharfem Gegensatz zu einem anderen ausbilden.

Bering illustriert diesen Allerweltsmechanismus anhand von Beispielen aus dem 19. Jahrhundert, als etwa völkische Autoren die Ähnlichkeit assimilierter "deutscher Juden" und "normaler Deutscher" zum Anlass nahmen, dies zu skandalisieren. Der Grundirrtum des Buches aber besteht darin, dass der Autor meint, vom 19. Jahrhundert her das 16., von dezidiert nationalistischen Haltungen her pränationale Mentalitäten erklären zu können.

Das Judentum? Keine legitime religiöse Option für Luther

Anhand eines Katalogs unterschiedlicher Aspekte will Bering plausibel machen, dass Luthers Verständnis des Christentums in eine gefährliche, den Mechanismus der Kontrastbetonung freisetzende Nähe zum Judentum geraten sei.

Indem der Wittenberger Reformator das sakramentale Priestertum, den Zölibat, das Mönchtum und die Klöster abgeschafft, die Heiligen, Bilder und Reliquien diskreditiert und eine Konzentration auf die "Schrift allein" propagiert habe, habe er das reformatorische Christentum an das Judentum herangeführt. Dass diese Deutung dem Selbstverständnis des Reformators zutiefst widerspricht, stört den in tiefsten Tiefen der Psyche gründelnden Kontrastforscher nicht.

Im 16. Jahrhundert ist bei katholischen Autoren gegenüber Luther und einigen seiner Anhänger das Kritikstereotyp verbreitet, sie "verjudeten" das Christentum. Bei völkischen und nationalsozialistischen Ideologen taucht es wieder auf. Mittels des Konzepts der Kontrastbetonung soll es bei Bering die Qualität eines stechenden Beweises erhalten.

Die als Analogien bemühten Beispiele für den Mechanismus der Kontrastbetonung in Natur und Kultur basieren freilich durchweg auf "realen" Sachverhalten. Gerade dies ist aber bei "Luther und den Juden" schwerlich der Fall. Denn nach allem, was man begründet sagen kann, beschränkten sich seine persönlichen Kontakte zu Juden auf ganz wenige Begegnungen.

Ob ihm von der sehr positiven Resonanz, die er zunächst in jüdischen Kreisen fand, allzu viel bekannt geworden ist, ist eher unsicher; Indizien, dass ihn dies zu einer distanzierenden Betonung der Differenz veranlasst hätte, gibt es kaum. Für das Phantomhafte, Phantasmagorische, Gespenstische, ja Fiktionale, das Luthers Bild der Juden bestimmt, hat Bering kaum ein Sensorium.

In seiner Luther-Interpretation geht er auch deshalb in die Irre, weil er nicht hinreichend gründlich zwischen einer theologisch konstanten Kritik am Judentum und variierenden "judenpolitischen" Optionen unterscheidet. Überdies betont er bei der Schrift von 1523 nicht stark genug, dass hier der endzeitliche Kampf gegen die römische Kirche zentral ist.

Nichts hätte die Wahrheit der reformatorischen Bewegung und ihrer Lehre, auch die Unwahrheit des Papstes eindrücklicher beweisen können als eine nennenswerte Anzahl bekehrter Juden. Eine legitime religiöse Option war das Judentum für Luther niemals; das Alte Testament stand seines Erachtens dagegen. Diese theologische Kontinuitätslinie dominiert alle Äußerungen Luthers in allen Lebensphasen.

Doch zur Hauptfrage, die den Titel des Buches bildet: "War Luther Antisemit?" Mit Bering bejahe ich sie. Gegen Bering aber insistiere ich darauf, dass sie mit dem präzisierenden Zusatz "vormodern" zu versehen ist. Angemessen ist es, Luther mit dem erst im späten 19. Jahrhundert aufgekommenen Begriff "Antisemitismus" zu bezeichnen, weil er immer wieder von einer "Wesensnatur" der Juden her argumentiert und - was freilich zeitgenössisch verbreitet war - von daher die Wirksamkeit von Judentaufen skeptisch beurteilte.

Luther waren biologistische Rassentheorien fremd

"Vormodern" deshalb, weil Luther eine biologistische Rassentheorie, die den Kern des mörderischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts bildete, fremd war. Dagegen, Luther "nur" einen vornehmlich religiös bestimmten "Antijudaismus" zu attestieren, spricht, dass dieser Begriff die evidenten Zusammenhänge zwischen der alteuropäischen Judenfeindschaft und dem modernen Antisemitismus verschleiert.

Dass Luther den religiösen Anspruch an konvertierende Juden, die "rechte Christen" werden sollten, steigerte, unterschied ihn von einer katholisch-sakramentstheologischen Haltung, die ganz auf das Taufsakrament setzte. Im Unterschied zu Bering und auch manchen völkischen Interpreten, die durch die Fixierung auf den Wittenberger Reformator die Breite und Tiefe der Judenfeindschaft in den europäischen Gesellschaften der "Vormoderne" übersehen, vermag ich nicht einzusehen, dass man allein Luther zum wichtigsten Referenzpunkt des Judenhasses macht.

Bei Bering aber entsteht geradezu der Eindruck, Luther habe den Antisemitismus erfunden. Das geht nicht an; Luther ist ein sicher besonders gruseliger und wirkungsreicher, aber doch nur ein Vertreter eines im 16. Jahrhunderts breit zu belegenden "vormodernen Antisemitismus".

Berings Grundfehler besteht darin, das Thema "Luther und die Juden" im Horizont einer "deutsch-jüdischen" Beziehungsgeschichte zu behandeln. Gerade diese Dimension spielt bei Luther keine Rolle. Davon, dass Juden angeblich keine Deutschen sein können, wusste der Wittenberger nichts. Ihn von der Übermacht des 19. Jahrhunderts zu befreien, gegen den monumentalen Berserker den fehlbaren Menschen des 16. Jahrhunderts freizulegen, ist auch gegenüber diesem Luther-Buch geboten.

Der Autor lehrt als Professor für Kirchengeschichte in Göttingen. 2014 erschien sein Buch "Luthers Juden" im Reclam-Verlag.

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SZ vom 08.01.2015
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