Martin - so nennen wir einen deutschen Philosophen im besten Mannesalter - Martin Heidegger also hatte die schönste Stunde eines Aprilnachmittags damit zugebracht, die ontologische Differenz zwischen sich und seiner Elevin abzubauen, indem er die lernwillige junge Frau in die Begrifflichkeit von Sein und Zeit einführte, von Sein und Dawider-Seyn, was ihm Gelegenheit gab, seinen Parmenides hervorzuholen, wonach aus dem Nicht-Seienden niemals das Seiende hervorgehen könne, um dann beiläufig Hesiods "ewigen Eros" ins Spiel zu bringen und dann wieder zu Parmenides zurückzukehren, der von der zeugenden Urkraft gewusst habe. Diese nämlich sei es gewesen, so beschied er die Studentin mit Verweis auf Platon und dessen "Symposion", die unter allen Göttern zuerst den Eros erschaffen.
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Ja, der Eros, dieser Schlingel! Bis zur vergangenen Woche wusste die Welt nichts von dieser einmaligen unio mystica et philosophica, die den großen Denker mit Eleonore Otte verband, seiner, wie die Frankfurter Allgemeine enthusiasmiert meldete, "unsichtbaren Geliebten". Frau Otte war einer seiner Freiburger Studentinnen, die es, wie wir bekümmert erfahren, trotz der philosophisch begründeten Liaison mit dem Großen Geist selber nur zur Realschullehrerin brachte. Womöglich hätte die Welt nie von dieser zweifellos grundstürzenden und seinsgeworfenen Liebe erfahren, hätte nicht Günter Seubold in Marbach im Nachlass gestöbert.
Mit einer Delikatesse, wie sie nur wahren Schülern des großen Heidegger eigen ist, wusste Seubold von verstohlenen Treffen in einem Rottweiler Gasthof zu berichten, von postlagernd versandten Briefen, aber auch von der Sehnsucht, die den großen Philosophen gelegentlich ergriff. Dann, so beflüstert Seubold seinen Fund in den Geisteswissenschaften der FAZ, habe Heidegger die ferne Geliebte um Bilder gebeten, "die ihre ganze Gestalt zeigen sollten". Der Leser, er kann nicht anders, er fühlt mit, wenn Seubold davon raunt, was für ein "schön-erregender An-Blick" diese Ganzkörperaufnahmen für den "Meister aus Deutschland" (R. Safranski) gewesen sein müssen.
"Wenn Du mich anblickst, werd' ich schön,/schön wie das Riedgras unterm Tau."
So groß war die Sehnsucht manchmal, dass Heidegger nicht mehr an sich halten, dass er selber dichten musste. Das belegt ein Poem, den treuen Lesern der FAZ-Geisteswissenschaften im schönsten Faksimile präsentiert und von dem Heidegger-Herausgeber Seubold mit Trevor-Roperhafter Kennerschaft begutachtet: "Es stammt eindeutig von Heidegger."
Einer Augenblickslaune folgend wählte der Philosoph bischofslilanes Papier, dem er in steiler deutscher Schrift anvertraute, was sein Herz bewegte: "Wenn Du mich anblickst, werd' ich schön,/schön wie das Riedgras unterm Tau./Wenn ich zum Fluß hinuntersteige,/erkennt das hohe Schilf mein sel'ges Angesicht nicht mehr." Die Geliebte legte das kostbare Blatt in ein Bändchen mit Vorträgen und Aufsätzen, das ihr Heidegger zur Erinnerung an den Rottweiler Gasthof zugeeignet hatte. So süß.
Eigentlich schade, dass diese lilafarbene Liebesgeschichte sofort zerplatzt ist, und wieder einmal ist das böse Internet schuld. Dort wurde erst seinsgewiss von "memorialer Gefühlsintensität" und dem "mit dem Licht des Mondes zu assoziierenden eben kontraintuitiven Strahlen erfühlter Schönheit" gesäftelt, aber dann kam's heraus: Das angebliche Heidegger-Gedicht, ach, es ist gar kein Heidegger-Gedicht, sondern es stammt von Gabriela Mistral, die 1945 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Heidegger mochte vor Liebe und Parmenides blind sein, aber als guter Philologe hatte er das Gedicht durch An- und Abführungszeichen erkennbar als Abschrift ausgewiesen.