Lorenz Jägers neue Heidegger-Biografie:Gnadenlos eingebettet

Viktor Frankl und Martin Heidegger

All das Etablierte muss weg, um zu etwas Neuem durchdringen zu können, das aber tatsächlich das Urälteste ist: Martin Heidegger mit dem Neurologen Viktor Frankl um 1960 in Freiburg im Breisgau.

(Foto: Viktor Frankl Archiv/Imagno/SZ Photo)

Vor sieben Jahren bewiesen die "Schwarzen Hefte" zweifelsfrei Heideggers Antisemitismus. Lorenz Jäger hat die erste Biografie des Philosophen nach den Enthüllungen geschrieben.

Von Thomas Meyer

Geboren 1889 im badischen Meßkirch, ausgestattet mit humanistischer Bildung, empfänglich für die Schwingungen des Zeitgeistes, mischen sich bei Martin Heidegger früh Eigensinn und philosophischer Tiefsinn. Der Philosoph geht Risiken ein: Er heiratet eine Protestantin, erkennt den unehelichen Sohn an, trennt sich von der katholischen Kirche, wendet sich ab vom in festen Bahnen denkenden Neukantianer Heinrich Rickert und der alles andere als etablierten Phänomenologie Edmund Husserls zu.

Sein Denken prägen intensive Lektüren von Augustinus und Luther, zurückgeblendet auf Aristoteles, später Platon. Der Erste Weltkrieg ist dabei als Erschütterungserfahrung stets im Hintergrund. Dass all das Etablierte weg muss, um zu etwas Neuem durchdringen zu können, das aber tatsächlich das Urälteste ist, ist Heideggers grundlegende Überzeugung. Erst wenn sich die Wahrheit "unverborgen" zeigt, das Dasein, das wir selbst je sind, sichtbar wird, lässt sich Eigentliches denken und sagen.

Von hochmütiger Weltabgewandtheit und sich zugleich den Zeitläuften ganz ausliefernd

1927 erscheint dann das Buch, um das sich alles Weitere drehen wird: "Sein und Zeit". Die modische gewordene Rede vom "Leben" wird polemisch in die "Botanik" geschoben, das "Dasein" mit dem "Tod" verkoppelt, auf den es unerbittlich zuläuft. Die unhistorische "Geschichtlichkeit", aus der später das "Geschick" werden wird, lässt alle Ethik hinter sich, ein mögliches "Ich" muss nicht weiter bedacht werden. Über all dem thront das Sein oder das Seyn und mit ihnen, weil nach und nach einzig er ihnen Ausdruck verleihen kann: Martin Heidegger.

Wie ungeheuer flexibel dieses Schema ist, nicht zuletzt deshalb, weil sein Erfinder einer der genauesten und gewalttätigsten Leser ist, den die Philosophie je gesehen hat, zeigt sich im Dritten Reich. Von hochmütiger Weltabgewandtheit und sich zugleich den Zeitläuften ganz ausliefernd, treten ihm die "Ereignisse" als zu deutende Phänomene der "Seinsgeschichte" entgegen. Treffen sie ihn nicht direkt, werden sie gnadenlos eingebettet in die nie stillstehende "Besinnung". Hölderlin sorgt fürs Helle, die Vorsokratiker bewahren die Möglichkeit eines "anderen Anfangs" in sich, der noch freigelegt werden muss.

Lorenz Jägers neue Heidegger-Biografie: Lorenz Jäger: Heidegger. Ein deutsches Leben. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 604 Seiten, 28 Euro.

Lorenz Jäger: Heidegger. Ein deutsches Leben. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 604 Seiten, 28 Euro.

Ansonsten herrscht spätestens ab 1939 die "Machenschaft", die "Bolschewismus", "Amerikanismus", das "Judentum" und auch die sich selbst nicht verstehenden "Deutschen" in den Schlund des "Riesenhaften" und falsch verstandener Metaphysik drücken und zermalmen wird. Daneben, dazwischen, darüber, je nach Denksituation, hauchzarte Dichtungsauslegung und filigrane Deutungsbemühungen der von Heidegger neu angeordneten "Tradition".

Von hier aus geht es in die sogenannte Nachkriegszeit. Sein "Dasein", nicht sein "Leben", werden öffentlich sichtbar. Zusammen mit anderen, die den Zweiten Weltkrieg überstanden hatten und behaupteten, von der Shoah, wenn überhaupt, allenfalls in der Form von Gerüchten oder "Nachrichten" erfahren zu haben, und sich gegen deren bloßer Benennung oder ihrer Deutung als singulärem Einschnitt in der Menschheitsgeschichte wehrten, beginnt Heideggers eigentliche Karriere. "Holzwege", "Vorträge und Aufsätze" und "Wegmarken" heißen Bände, die über Jahrzehnte hinweg jeder Philosophiestudierende "intus" haben musste.

Heideggers Geschichte bleibt bis zum Tod im Jahr 1976 eine äußerst erfolgreiche. Als es so weit ist, ist alles geordnet: Die "Gesamtausgabe" steuert unaufhaltsam auf die 100-Bände-Marke zu - und die globale Rezeption belegt seinen außerordentlichen Rang. Die aufs Engste mit dem Werk verwobenen, seit 2014 erscheinenden sogenannten "Schwarzen Hefte" legen die Fundierung von Heideggers Denken offen. Von ihnen aus sollte sein Werk neu erschlossen werden.

Ein beneidenswert gut geschriebenes und klug komponiertes Buch

Biografische Darstellungen Martin Heideggers in deutscher Sprache sind gleichwohl selten. Der gerade 90 Jahre alt gewordene Historiker Hugo Ott präsentierte 1992 eine "vorläufige", die ein Muster an archivbasierter Analyse darstellt. Zwei Jahre später folgte Rüdiger Safranski, der Heidegger als "Meister aus Deutschland" präsentierte. Der stets nüchterne Manfred Geier ersetzte 2005 die alte rororo-Bildmonographie des Heidegger-Schülers Walter Biemel. Es wurde also Zeit, eine neue biografische Summe zu ziehen.

Mit Lorenz Jäger nimmt sich nun allerdings ein ganz anderer Intellektuellentypus als die Genannten des Denkers an. Von 1997 bis 2016 war der 1951 Geborene Redakteur und kurzzeitig Leiter des Ressorts Geisteswissenschaften in der FAZ. Der promovierte Germanist legte von 2003 an eine Reihe von eng verzahnten Studien vor, die auf eine Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts hinauslaufen.

In jedem Falle darf man sich auf ein beneidenswert gut geschriebenes und klug komponiertes Buch freuen, das den Mut zur Auswahl hat. So gelingt Jäger eine eindringliche Darstellung des jungen Heidegger und der vom Helden stets vielbeschworenen "Herkunft" seines Denkens aus dem Alemannischen und der sich von Meßkirch und bis nach Todtnauberg erstreckenden Landschaft. Glaubhaft im Wortsinn ist, was auf den ersten 100 Seiten vor den Augen der Leser entwickelt wird. Dort wird zudem ein auf immer verlorenes natürliches Umfeld rekonstruiert, für das die Einheit von Kirche und Bildung selbstverständlich ist.

"In die 'Irre' und in den 'Irrtum' war er im Nationalsozialismus gegangen, mehr ins Detail zu gehen war seine Sache nicht."

Was Jäger zitiert, ist stets wohlerwogen. Er liest zudem sehr genau. Das Buch, auf ausschließlich publizierten Schriften basierend, zwingt durch die vorgenommenen Arrangements auch erfahrene Leser, die Schriften Heideggers oder Karls Jaspers' nochmals in die Hand zu nehmen. Und es ist überzeugend und aufklärend, wenn Jäger Argumente und Denkmotive des frühen Heidegger bis weit in die Dreißigerjahre und auch darüber hinaus als maßgeblich für dessen Denken erachtet. "Es gibt Unwahrheit, sicher, aber sie firmiert unter dem Titel 'irre'. Irre ist in dieser Lesart ebenso eine Versuchung wie ein Ausweis der Größe. In die 'Irre' und in den 'Irrtum' war er im Nationalsozialismus gegangen, mehr ins Detail zu gehen war seine Sache nicht. Alles Verhalten wird in so ragende Höhen und große Dimensionen gebracht, dass es im Alltag nicht mehr fassbar wird, nicht angesprochen werden kann. Größe bedeutet großes Irren: Das wird die Formel, unter der Heidegger sein Leben verstehen wird. Mit zwanzig Jahren hat er sie gefunden."

Die Passage vermittelt einen guten Eindruck von Jägers Abgeklärtheit. Der Analyst der Irrungen und Wirrungen ideologischer Grabenkämpfe skandalisiert nicht Heideggers späteres Beiseiteschieben des nationalsozialistischen Engagements, sondern notiert es.

Mit Gewinn lesen sich auch die Kapitel zu Hannah Arendt und Karl Löwith, deren Werke in sehr unterschiedlicher Weise auf Heidegger bezogen sind. Jäger kann auch der Auseinandersetzung mit Jaspers viel abgewinnen, dessen geistige Nähe zu Heidegger bis zur Nietzsche-Biografie von 1937 deutlich hervortritt. Ein kleines Meisterstück ist in den Jaspers-Passagen die Deutung von Heideggers Besprechung der "Psychologie der Weltanschauungen". Darin kann Jäger zeigen, wie sehr Heidegger bei anderen Ambivalenzen freilegen konnte, denen gegenüber er selbst nahezu völlig blind war. Ein Coup gelingt Jäger mit dem Marburger Germanisten Max Kommerell, der sich als teilnehmender Beobachter in die Nähe Heideggers begab, um dessen Denkstil zu erkunden.

Mit Kommerell sind wir bei Hölderlin. Jäger, der weitgehend auf den Begleitschutz von Sekundärliteratur verzichtet, setzt sich mit den verwinkelten Beziehungen zwischen Dichter und Denker am ausführlichsten auseinander. Nirgendwo sonst gesteht der Biograf Heidegger so viel Eskapismus, denkerische "Höhe" und Auslegungsfreiheiten zu wie hier.

Hölderlin ist denn auch die Kippfigur des Buches, sozusagen ein zweiter Held. In ihm lässt Jäger Heidegger sich nochmals spiegeln und ins vermeintlich Freie treten: "Die höchste Auffassung vom Dichterischen ist verschwistert mit der Häresie: So lässt sich die zerreißende Konstellation beschreiben, in der Heidegger, ein religiös aufs Äußerste krisengeschüttelter Mensch, in Hölderlins Hymnen den ihm gemäßen Gegenstand des Denkens entdeckt. Eine Geste der Distanzierung Heideggers gegenüber der herrschenden Wirklichkeit wird erkennbar."

Ist das so? Die Frage stellt sich immer wieder, wenn in Jäger der Ideologiehistoriker hervortritt. Denn der Ideologiehistoriker löst die zuvor virtuos belegte Verwobenheit von Leben, Dasein, Tod und Sein/Seyn auf, fügt in die behauptete "Distanzierung" mehr und mehr eigenwillige, ja, absurde Vergleiche ein. Diese dienen nicht einer Verharmlosung von Heideggers Antisemitismus, hier ist Jäger völlig klar und standfest (wobei er dem Leser manche aussagekräftige Passage vorenthält), vielmehr glaubt der Biograf im Ungefähren bleiben zu müssen, bis hin zur Klitterung. Wie in seiner Adorno-Biografie vermag er nicht hinzuschreiben, dass am 1. September 1939 von der Wehrmacht Polen überfallen wurde. Der übermäßige Einsatz des Wortes "unheimlich" ist bei einem so genauen Kenner historischer Abläufe selbst unheimlich.

Ärgerlich, weil teilweise schlicht falsch, sind die Bemerkungen zu Herbert Marcuse. Und was Jäger von der "jüdischen Armee" faselt, hätte ihm ein gnädiger Lektor rausstreichen müssen. Gelegentlich erscheint es, als habe der Biograf das früh im Buch auftauchende Wort "Weltbürgerkrieg" dadurch rechtfertigen wollen, dass er später immer wieder kleine Scharmützel inszeniert und dabei wirkt, als wolle er alten Kameraden zurufen, er sei wieder auf ihrer Seite. Doch Jäger kann leicht gegen Jäger verteidigt werden. Seine Heidegger-Biografie sollte man trotz der Einwände unbedingt lesen.

Zur SZ-Startseite

Svein Jarvolls "Melbourne-Vorlesungen"
:Das Latschende hat System

In Norwegen ist die Postmoderne untrennbar verbunden mit dem Namen Svein Jarvoll. Die Übersetzungen seiner Werke ins Deutsche waren lange überfällig. Endlich sind sie da.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: